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Das Geheimnis des Schlafs von A. Borbély
- Kapitel 1
Buchausgabe © 1984 Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart
(vergriffen)
Ausgabe für das Internet, 1998, A. Borbély, Universität
Zürich.
Der Schlaf
im Wandel der Zeit
»Es sieht so aus,
als hätte die Welt auch uns Erwachsene
nicht ganz,
nur zu zwei Dritteilen;
zu einem Drittel sind wir überhaupt noch
ungeboren.
Jedes Erwachen am Morgen
ist dann wie eine neue Geburt.«
Sigmund Freud
Wenn wir abends zu Bett gehen, geraten wir in einen
veränderten Bewußtseinszustand, der einige Stunden andauert.
Wir sehen, hören und fühlen dabei nicht mehr bewußt, was
um uns herum vorgeht. Diesen Zustand nennen wir Schlaf. Die Welt des Schlafens
und die Welt des Wachens sind so verschieden, daß man sagen könnte,
jeder von uns lebe in zwei Welten. Der Unterschied zeigt sich besonders
eindrücklich, wenn wir nachts plötzlich aus dem Schlaf erwachen
und dann eine Zeitlang noch nicht ganz bei uns sind. Der französische
Dichter Marcel Proust schildert diesen Übergang besonders schön:
Aber es genügte, daß in meinem eigenen
Bett mein Schlaf besonders tief war und meinen Geist völlig entspannte;
dann ließ dieser den Lageplan des Ortes fahren, an dem ich eingeschlafen
war, und wenn ich mitten in der Nacht erwachte, wußte ich nicht,
wo ich war: ich hatte nur in primitivster Form das bloße Seinsgefühl,
das ein Tier im Innern verspüren mag: ich war hilfloser ausgesetzt
als ein Höhlenmensch; dann aber kam mir die Erinnerung - noch nicht
an den Ort, an dem ich mich befand, aber an einige andere Stätten,
die ich bewohnt hatte und an denen ich hätte sein können - gleichsam
von oben her zu Hilfe, um mich aus dem Nichts zu ziehen, aus dem ich mir
selbst nicht hätte heraushelfen können; in einer Sekunde durchlief
ich Jahrhunderte der Zivilisation, und aus vagen Bildern von Petroleumlampen
und Hemden mit offenen Kragen setzte sich allmählich mein Ich in seinen
originalen Zügen wieder von neuem zusammen. [1]
Für die meisten Menschen ist der Schlaf so
selbstverständlich, daß sie über seine Entstehung und seinen
Sinn kaum nachdenken. Erst wenn er gestört ist, rückt der Schlaf
ins Bewußtsein und wird zum »Problem«. Die Absicht dieses
Buches ist es zu zeigen, daß der Schlaf in neuester Zeit als einer
der grundlegenden Lebensvorgänge auch für die Wissenschaft immer
interessanter geworden ist, und daß auf Grund neuer Erkenntnisse
Antworten auf Fragen in Aussicht stehen, die die Menschen seit Jahrhunderten
beschäftigt haben. Das Buch soll auch einen Eindruck davon vermitteln,
mit wie vielen verschiedenen Wissensgebieten die Schlafforschung in Zusammenhang
steht. Es gibt kaum einen anderen Zweig der modernen Naturwissenschaft,
der in vergleichbarem Ausmaß sowohl für die Grundlagenforschung
als auch unmittelbar für das Alltagsleben von Bedeutung ist und für
den überdies noch jedermann, aufgrund eigener, langjähriger Erfahrung,
gewissermaßen ein Spezialist ist.
Abb. 1.1: »Die Nacht«
(Ausschnitt), Michelangelo Buonarroti, Grabmal des Giuliano de Medici.
(39k JPG file)
Über das Wort »Schlaf«
» Schlaf « ist ein Wort altgermanischen
Ursprungs, eine sogenannte Nominalbildung zu »schlafen« (gotisch
»sleps« und alt- und mittelhochdeutsch »slaf«).
Auch das niederländische »slaap« und englische »sleep«
gehen auf diesen Ursprung zurück. »Schlafen« bedeutet
ursprünglich »schlapp werden« und ist mit dem Eigenschaftswort
»schlaff« verwandt. Im folgenden werden wir sehen, daß
auch in der modernen Schlafforschung das Schlaffwerden der Muskulatur als
wichtige Meßgröße zur Bestimmung der Schlafstadien dient.
Dem Wort »Schlummer« liegt die indogermanische
Wurzel »slu« (schlaff, herabhängend) zugrunde. Das Wort
»slummern« (englisch: to slumber) taucht zuerst im Mittelhochdeutschen
und Niederdeutschen auf und ist erst im 16. Jahrhundert von Martin Luther
in die Schriftsprache eingeführt worden. »Dösen«
(englisch: to doze) wird vom Duden als »gedankenlos dasitzen, halb
schlafen« definiert. Das Verb »dösen« ist erst im
19. Jahrhundert aus dem Niederdeutschen ins Schriftdeutsche eingedrungen.
Verwandt ist es mit den Hauptwörtern »Dusel« und »Dunst«.
Dösen bezeichnet denn auch einen geistig vernebelten Zustand. In der
Umgangssprache verwendet man gelegentlich den Ausdruck »ein Nickerchen
machen«. »Nicken« entstammt dem Mittelhochdeutschen,
wo »nücken« so viel wie »nicken, stutzen, leicht
schlummern« bedeutete. Wenn jemand schläft, sagt man zuweilen
auch »er pennt«. Das Wort stammt aus der sogenannten Gaunersprache
und ist wohl eine Ableitung von »Penne« (= einfaches Nachtlager,
Herberge). Im Jiddischen bedeutet »pannai« müßig.
Vom Hauptwort »Schlaf« leiten sich verschiedene
Begriffe ab, die mit ihm nur mehr in indirektem Bedeutungszusammenhang
stehen. So wird beispielsweise »entschlafen« als ein Hüllwort
für »sterben« verwendet. Etwas »beschlafen«
oder »überschlafen« heißt, es bis zum nächsten
Tag bedenken, um so Distanz zu einem bestimmten Problem zu gewinnen. Zum
»Beischlaf« (das Wort stammt aus dem 15. Jahrhundert) kommt
es, wenn Mann und Frau »zusammen schlafen«. Wie beim Ausdruck
»entschlafen« ist auch hier ein Vorgang gemeint, der mit »schlafen«
nicht direkt zusammenhängt und den man lieber nur umschreibt. Auch
die »Schläfe« leitet sich von »Schlaf« ab,
denn sie ist der Teil des Kopfes, auf welchem der Schlafende liegt. Einer,
der zu viel oder zu lange schläft, wird als »Schlafmütze«
bezeichnet. Dieser aus dem 17. Jahrhundert stammende Ausdruck bezog sich
ursprünglich auf die Nachtmütze, die man beim Schlafen trug und
wird seit dem 18. Jahrhundert im übertragenen Sinne gebraucht. Angeblich
soll ihn Lessing erstmals so verwendet haben.
Werfen wir schließlich noch einen Blick über
die Grenzen unseres eigenen Sprachraums hinaus. Wie die nachstehende Übersicht
zeigt, liegt die Wurzel »son« oder »somn« dem Begriff
»Schlaf« in verschiedenen indogermanischen Sprachen zugrunde:
französisch »sommeil«; italienisch »sonno«;
spanisch »sueño«; portugiesisch »somno«;
rumänisch »somnul«, schwedisch »somn«; dänisch
»sovn«; russisch »son«; polnisch »sen«;
bulgarisch »sun«; serbo-kroatisch »san«; tschechisch
»spanek«; hindi »sona«; griechisch »hypnos«.
In anderen Sprachen heißt »Schlaf«:
ungarisch »alvas«; finnisch »uni«; türkisch
»uyku«; hebräisch »shenah«; japanisch »nemuri«;
chinesisch »shui jiao«; telugu (südindische Sprache) »nidura«;
zulu »lala«.
Der Schlaf - Bruder des Todes
Schon in der griechischen Sagenwelt sind der sanfte
Schlaf, Hypnos, und der mitleidlose Tod, Thanatos, beide Söhne der
Nachtgattin Nyx. Der römische Dichter Ovid nannte den Schlaf »Abbild
des Todes«. »Er wohne in einer Höhle am Ufer des Lethebaches,
wohin niemals die Sonne gelange. Am Eingang seiner Höhle stünden
Mohn und tausenderlei Kräuter, aus denen die Nacht ihre Schlummersäfte
gewinne, um damit das Land zu befeuchten.«[2]
Auch für die Germanen waren Schlaf und Tod Geschwister, die beide
als »Sandmann« bezeichnet wurden, was nach Kuhlen als »
Sendbote « zu deuten ist, aber auch das Müdigkeitsgefühl
von Kindern (»ich habe ein Gefühl wie Sand in den Augen«)
bildhaft umschreibt.
Die Ruhe eines Schlafenden hat etwas Unheimliches
an sich. Im Schlaf ist man schutzlos den Gefahren der Umwelt ausgeliefert.
Wird man aus diesem geheimnisvollen Zustand wieder erwachen? Angesichts
dieser bangen Frage ist es nicht erstaunlich, daß Menschen vor dem
Einschlafen ein Gebet sprechen und sich zum Beispiel der Obhut von Schutzengeln
anvertrauen. »Ich liege und schlafe und erwache; denn der Herr hält
mich « heißt es im 3. Psalm. Der Gläubige kann ruhig und
ohne Furcht schlafen, denn er weiß, daß der Herr wach ist.
»Siehe, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht.
Der Herr behütet dich« (Psalm 121,4.5). Im Alten Testament ist
bereits im Schöpfungsbericht von Schlaf die Rede. Gemeint ist nicht
der gewöhnliche, sondern ein außergewöhnlicher, tiefer
Schlaf (hebräisch »tardema«), in welchen Gott Adam versetzt,
um ihm zur Erschaffung Evas eine Rippe zu entnehmen.
Aber ruhiger Schlaf kann andererseits auf den ersten
Blick leicht mit dem Tod verwechselt werden. Schlaf als Scheintod ist denn
auch ein verbreitetes Motiv in Sage, Dichtung und Märchen. In Shakespeares
Drama nimmt Julia eine Droge ein, um durch sie in einen mehrtägigen,
todähnlichen Schlaf zu fallen und dadurch der lästigen Obhut
ihrer Familie zu entrinnen. Das Unglück will es, daß nicht nur
die Familie, sondern auch ihr Geliebter Romeo sich täuschen läßt.
Die Geschichte nimmt deshalb ein schlimmes Ende. Besser ergeht es Schneewittchen,
das zwar schon scheintot im Sarg liegt, aber im entscheidenden Augenblick
doch noch erwacht. Den »Schlafrekord« hält ohne Zweifel
Dornröschen. Hier ist es nicht eine Droge, sondern eine an sich harmlose
Verletzung, die sie in einen vorhergesagten hundertjährigen Schlaf
fallen läßt. Nicht nur sie selbst schläft ein, sondern
mit ihr der König, die Königin und der gesamte Hofstaat, mitsamt
Pferden, Hunden, Tauben und Fliegen. Pflanzen sind offensichtlich dem Zauber
entzogen, denn eine Dornenhecke überwuchert das ganze Schloß.
Der erlösende Kuß des Königssohns fällt genau mit
dem Ende der hundertjährigen Schlafperiode zusammen, ist also nur
scheinbar die Ursache des Erwachens, sicher aber der Hauptgrund für
das Happy End.
Wenn wir bisher den Schlaf als einen dem Tode ähnlichen
Zustand betrachtet haben, so können wir umgekehrt auch fragen, inwieweit
der Tod als ein schlafähnlicher Zustand aufgefaßt werden kann.
Im Johannes-Evangelium finden wir einen besonders eindrucksvollen Bericht,
der diese Frage zum Thema hat. Die Rede ist vom kranken Lazarus. Jesus
spricht zu seinen Jüngern: » Lazarus, unser Freund, schläft;
aber ich gehe hin, daß ich ihn aufwecke. Da sprachen seine Jünger:
Herr, schläft er, so wird's besser mit ihm. Jesus aber sagte von seinem
Tode; sie meinten aber, er redete vom leiblichen Schlaf. Da sagte es ihnen
Jesus frei heraus: Lazarus ist gestorben.«
Dann geht Jesus mit seinen Jüngern zum Grabe,
in dem der Tote schon seit vier Tagen liegt, und ruft dort mit lauter Stimme:
»Lazarus, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit
Grabtüchern an Füßen und Händen und sein Angesicht
verhüllt mit einem Schweißtuch.« Der Tote erwacht also
zum Leben wie aus einem tiefen Schlafe. Über diesen biblischen Bericht
hinaus hat seit langem die Frage die Menschen bewegt, ob mit dem Tode das
Leben wirklich endgültig beendet sei oder ob der Tod ein schlafähnlicher
Zustand sein könnte, aus dem es doch noch irgendein Erwachen gibt.
Die Diskussion dieses Problems aber, das viele Menschen auch heute noch
beschäftigt, würde uns hier zu weit vom eigentlichen Thema wegführen.
Abb. 1.2: »Da ließ
Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief
ein. (1. Mose, 2,21-22; »Die Erschaffung der Eva«, in: Die
heilige Schrift ..., illustriert von Gustav Doré, übersetzt
von J. Franz von Allioli). (55k JPG file)
Schlaf - Zustand der Seligkeit oder des
dumpfen Unwissens?
In den östlichen Philosophien und Religionen
wurde der Schlaf zuweilen als der eigentliche, wahre Zustand des Menschen
dargestellt, in dem Individuum und Universum eins sind. Der chinesische
Philosoph Chuang Tzu (300 v. Chr.) schrieb: »Alles ist eins; im Schlaf
ist die Seele ungestört und aufgenommen in diese Einheit; im Wachen
hingegen ist sie abgelenkt und sieht die verschiedenen Gegebenheiten der
Welt.« [3]
In den altindischen philosophischen Texten der Upanishaden
wurden die folgenden vier Seinsformen unterschieden: 1. Der Wachzustand,
der allen Menschen gemeinsam ist; 2. der Zustand des Träumens; 3.
der Zustand des Tiefschlafs; 4. der »vierte« (überbewußte)
Zustand des eigentlichen Selbst. Der Tiefschlaf (susupta) ist jener Zustand,
in welchem man nichts begehrt und nicht träumt. An anderer Stelle
in den Upanishaden wird der Tiefschlaf mit dem eigentlichen Selbst in Zusammenhang
gebracht: »Wenn man tief schläft, ruhig und heiter, und keinen
Traum sieht, das ist das Selbst (Atman), das ist das Unsterbliche, Furchtlose,
das ist Brahma.« [4]
In der jüdisch-christlichen Überlieferung
wird der Schlaf selten als ein erstrebenswerter Zustand angesehen. So finden
wir schon im Alten Testament die Mahnung: »Liebe den Schlaf nicht,
daß du nicht arm werdest; laß deine Augen wacker sein, so wirst
du Brot genug haben« (Sprüche 20,13). Nur der durch harte Arbeit
redlich verdiente Schlaf ist ein guter Schlaf: »Wer arbeitet, dem
ist der Schlaf süß, er habe wenig oder viel gegessen; aber die
Fülle des Reichen läßt ihn nicht schlafen.« (Prediger
5,11.)
Den Schlaf als Sinnbild der Trägheit, des dumpfen
Unwissens und Unglaubens finden wir in der Verteidigungsrede des griechischen
Philosophen Sokrates vor dem Gericht in Athen:
»Wenn ihr also mir folgen wollt, werdet ihr
meiner schonen. Ihr aber werdet vielleicht verdrießlich, wie die
Schlummernden, wenn man sie aufweckt, um euch stoßen und mich, dem
Anytos folgend, leichtsinnig hinrichten, dann aber das übrige Leben
weiter fort schlafen, wenn euch nicht der Gott wieder einen andern zuschickt
aus Erbarmen.« [5]
Im Christentum wird das Aufwachen oft im übertragenen
Sinne verstanden. Im Neuen Testament finden wir beispielsweise den Aufruf:
»Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so
wird dich Christus erleuchten.« (Epheser 5,14.) Das folgende Kirchenlied
ruft ebenfalls die Menschen auf, aufzuwachen und ein neues Leben zu beginnen:
»Wach auf mein Herz: die Nacht ist hin, die
Sonn ist aufgegangen. Ermuntre dich, mein Geist und Sinn, den Heiland zu
empfangen, der heute durch des Todes Tür gebrochen aus dem Grab herfür
der ganzen Welt zur Wonne.
Steh aus dem Grab der Sünden auf und such ein
neues Leben. Vollführe deinen Glaubenslauf und laß dein Herz
sich heben gen Himmel, da dein Jesus ist, und such, was droben, als ein
Christ, der geistlich auferstanden.« (Benjamin Schmolck, 1672-1737.)
Auch in östlichen Kulturen wurde das Erwachen
aus dem Schlaf in einem ähnlich übertragenen Sinne verwendet,
wie zum Beispiel der Name »Buddha« zeigt: »der Erleuchtete,
der Erweckte«, wobei sich »Buddha« von »budh«
(= wecken) ableitet.
Frühe Erklärungsversuche für
den Schlaf: Von der Philosophie zur Naturwissenschaft. [6]
Aus der altgriechischen Zeit sind uns Äußerungen
von Philosophen und Ärzten überliefert, in denen Erklärungen
für den Ursprung des Schlafs angeführt werden. Empedokles von
Agrigent, Schöpfer der Vier-Elemente-Lehre, nach der es kein Entstehen
oder Vergehen sondern nur ein Mischen und Entmischen der Elemente Feuer,
Luft, Wasser und Erde gibt, betrachtete den Schlaf als Folge einer mäßigen
Abkühlung der im Blut befindlichen Wärme, beziehungsweise als
die Absonderung des Elements »Feuer« von den drei anderen.
Hippokrates dagegen, der »Vater der Heilkunst«, schloß
aus der Abkühlung der Gliedmaßen, daß der Schlaf auf der
Flucht von Blut und Wärme ins Innere des Körpers beruhe. Für
den großen Philosophen und Naturforscher Aristoteles lag die unmittelbare
Schlafursache in der aufgenommenen Nahrung, von der er annahm, sie gebe
eine Ausdünstung in die Adern ab. Diese Dünste würden dann
von der Lebenswärme in den Kopf getrieben, sammelten sich dort an
und verursachten Schläfrigkeit. Alsdann kühlen sie sich im Gehirn
ab, sinken wieder in tiefere Körperteile zurück und entziehen
dabei dem Herzen Wärme. Dies führe schließlich zum Schlaf,
der so lange andauere, bis die Nahrung verdaut sei und das für die
oberen Körperregionen bestimmte reine Blut sich vom unreinen geschieden
habe. Der Aristoteles-Interpret Alexander von Aphrodisias (2./3. Jahrhundert
n. Chr.) knüpft an die Wärmetheorie an und argumentiert, durch
die Ermüdung werde der Körper ausgetrocknet und verliere dadurch
an Wärme, was schließlich zum Schlaf führe.
Im Mittelalter (12. Jahrhundert) betonte Hildegard
von Bingen, Benediktinerin und Verfasserin medizinischer, naturkundlicher
und mystischer Schriften, die Parallelen zwischen Schlaf und Nahrung und
brachte beide in Zusammenhang mit dem Sündenfall. Kuhlen schildert
ihre recht eigentümlichen Ansichten folgendermaßen: »Der
Mensch bestehe aus zwei Teilen: aus Wachsein und Schlaf. So werde auch
der menschliche Körper auf doppelte Weise ernährt, nämlich
durch Speise und Ausruhen. - Vor dem Sündenfall sei Adams Schlaf ein
»Schlaf zur Versenkung« (=»sopor«), also ein »tiefer«,
kontemplativer Schlaf, und die Nahrung nur eine Nahrung zum Anschauen gewesen
- alles nur, um den Menschen geistig-seelisch zu erfreuen und zu erbauen.
Der Sündenfall habe seinen Körper schwach und gebrechlich gemacht
wie den eines Toten im Vergleich zu einem Lebenden. Jetzt habe der Mensch
Stärkung durch Nahrung und Schlaf nötig. Der Schlaf sei zu einem
normalen Zustand bei allen Menschen geworden. Wie die Nahrung das Fleisch
wachsen lasse, so erhole sich und wachse das Mark (»medulla«),
das durch Wachen verdünnt und geschwächt werde, im Schlaf wieder
heran.« [7]
Im 16. Jahrhundert wollte der berühmte Arzt
Paracelsus die Medizin wieder näher an die Natur heranführen.
Wie über viele andere Probleme hatte er auch über den Schlaf
sehr bestimmte Ansichten: Er meinte, der natürliche Schlaf dauere
sechs Stunden, beseitige die durch Arbeit aufgetretene Ermüdung und
erquicke den Menschen. Er empfahl, man sollte weder zu viel noch zu wenig
schlafen, sondern sich nach der Sonne richten, mit ihr aufstehen
und bei Sonnenuntergang schlafen gehen.
Im 17. und 18. Jahrhundert wurde für die Erklärung
des Schlafs oft eine eigenartige Verbindung von physiologischen Konzepten
und Seelenlehre herangezogen. So meinte der britische Arzt und Physiologe
Alexander Stuart, der Schlaf sei die Folge eines Knappwerdens des »animalen
Lebensgeistes« (»spiritus animales«), der durch Arbeit
und Bewegung erschöpft und ausgezehrt werde. Für den niederländischen
Arzt Herman Boerhaave wird der »spiritus nervosi« durch das
Gehirn aus dem Blut abgesondert. Der Schlaf komme dadurch zustande, daß
die Flüssigkeit (»liquor«) im Gehirn in ihrer Bewegung
gehindert werde, sich verbrauche und deshalb feine Gefäße und
Nerven, die vom Gehirn zu den Sinnesorganen und willkürlichen Muskeln
zögen, nicht mehr füllen könne. Die Theorie hat mit jener
des Schweizer Arztes und Naturforschers Albrecht von Haller (1708-1777)
gewisse Ähnlichkeiten, der meinte, das im Kopf verdichtete Blut komprimiere
das Gehirn und schneide dadurch den Weg des »spiritus« in die
Nerven ab. Für den deutschen Physiologen Jacob Fidelis Ackermann (1765-1815)
spielte der damals neu entdeckte Sauerstoff eine besonders wichtige Rolle,
indem er aus der eingeatmeten Luft den »Lebensäther« abscheide.
Über das Blut gelange dieser ins Gehirn, wo er abgetrennt und gespeichert
werde. Von den »Hirnkräften« in die Nerven und Muskeln
getrieben, rufe er »animale Bewegung« hervor. Ermüdung
führe zu einem Mangel an Lebensäther, doch im Schlaf könnten
die Vorräte wieder aufgefüllt werden.
Mit der im 19. Jahrhundert aufkommenden Naturphilosophie
rückten vorübergehend vermehrt mystische Konzepte in den Vordergrund.
So schrieb beispielsweise Philipp Franz von Walther, Professor für
Physiologie und Chirurgie: »Der Schlaf ist eine Hingebung des egoistischen
Seyns in das allgemeine Leben des Naturgeistes, ein Zusammenfließen
der besonderen Seele des Menschen mit der allgemeinen Naturseele.«
[8]
Die Entwicklung der Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert
führte zu Theorien, die den Schlaf ausschließlich auf physiologischer
und chemischer Grundlage zu erklären suchten. So sah zum Beispiel
Alexander von Humboldt die Ursache des Schlafs in einem Sauerstoffmangel,
der Bonner Physiologe Eduard Friedrich Wilhelm Pflüger in der verminderten
Aufnahme von Sauerstoff in die »lebenden Gehirnmoleküle«.
Andere meinten, die Hauptursache liege in einer Blutleere der Hirnrinde,
im Druck aufs Gehirn, in der Quellung der Nervenzellen oder in einer Umlagerung
elektrischer Ladung in den Ganglien. Der deutsche Physiologe Wilhelm Thierry
Preyer vertrat in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die
Meinung, Ermüdungsstoffe absorbierten den Sauerstoff aus dem Blut,
der deshalb für die Funktion des tätigen Hirns nicht mehr zur
Verfügung stehe. Er glaubte diese Stoffe als Milchsäure und Kreatin
identifizieren zu können.
Allen diesen Theorien ist gemeinsam, daß sie
zwar neue naturwissenschaftliche Konzepte zur Erklärung des Schlafs
heranzogen, diese aber auf keinerlei eindeutige Befunde stützen konnten
und sie im allgemeinen auch nicht durch Versuche zu überprüfen
suchten. Das sollte den Wissenschaftlern unseres Jahrhunderts vorbehalten
bleiben. In den folgenden Kapiteln - insbesondere in den Kapiteln 8 und
9 - werden wir auf diese wissenschaftlichen Entwicklungen zurückkommen.
Abb. 1.3: »Venus«
(Giorgione, 1697). (22k JPG file)
Schlafräume und Schlafzeiten: Zur
Soziologie des Schlafs [9]
In unseren Breiten findet man in den meisten Wohnungen
und Häusern separate Schlafzimmer. Das ist freilich eine relativ neue
Errungenschaft. Noch im späten Mittelalter schliefen viele Menschen
gemeinsam in einem Raum, der nicht nur zum Schlafen, sondern auch zu vielen
anderen Zwecken diente. Die Dienstboten schliefen häufig in der Nähe
ihrer Herrschaft, um jederzeit zur Verfügung zu stehen. Ein eigentliches
Schlafzimmer finden wir erstmals an königlichen Höfen. Berühmt
ist der Schlafraum des französischen Königs Ludwigs XIV., der
nicht nur die räumliche Mitte des Palastes, sondern so etwas wie das
Herrschaftszentrum des Königreichs bildete. Das morgendliche »Lever
du Roi« - der Empfang durch Seine noch im Bett ruhende Majestät
- war das wichtigste gesellschaftliche Ereignis des Tages. Die Einrichtung
eines eigentlichen Schlafzimmers wurde dann von der adligen Oberschicht
übernommen und erschien erst später in den bürgerlichen
Häusern.
Schlafgelegenheiten waren früher sogar in Gaststätten
zuweilen ein Problem. So berichtet Gleichmann von deutschen Badeorten des
17. Jahrhunderts, wo »aus Mangel an Schlafstellen die Hälfte
der Gesellschaft nur bis Mitternacht schlief, während die andere Hälfte,
die bis dahin den Vergnügungen nachging, alsdann zur Ablösung
erschien«.[10] Auf dem Land blieben die
alten Schlafgewohnheiten noch lange erhalten. Gleichmann zitiert einen
Bericht über bretonische Bauern im 19. Jahrhundert, in dem unter anderem
beschrieben wird, daß alle Familienmitglieder und Bediensteten in
einem einzigen großen Bett schliefen. Durchreisenden Besuchern habe
man ebenfalls gastfrei einen Platz im gemeinsamen Bett angeboten.
Die im 19. Jahrhundert zunehmende Distanz zwischen
Frauen und Männern ist auch aus den Schlafgewohnheiten ersichtlich.
In vornehmen Häusern hatten nun der Herr und die Dame des Hauses ein
eigenes Ankleidezimmer, die Kinder ein Kinderzimmer. Es gab auch »das
Zimmer der Söhne« und das der Töchter. Waren die Schlafräume
in älterer Zeit leicht zugänglich gewesen, so wurden sie nun
abgeschlossener und gehörten immer mehr zum Intimbereich. Die sich
ändernde Einstellung spiegelt sich auch in den Gasthäusern und
Spitälern wider, wo Massenlager seltener und Einzelzimmer immer häufiger
wurden.
In früheren Zeiten war aber nicht nur der Schlafort,
sondern auch die Schlafzeit weniger starr festgelegt als heute. Gleichmann
weist auf Abbildungen aus dem ausgehenden Mittelalter - beispielsweise
auf Gemälde der flämischen Schule - hin, auf denen häufig
Menschen zu sehen sind, die tagsüber neben Häusern, an Wegen
oder auf Feldern schlafen. Noch heute zeigen sich Reisende in Ländern
wie Indien beeindruckt von den vielen Menschen, die tagsüber schlafend
im Freien zu sehen sind. In Europa verbreitete sich immer mehr die Auffassung,
daß sowohl zu gewissen Tageszeiten als auch an gewissen Orten nicht
geschlafen werden sollte. So wird zum Beispiel das Schlafen auf Straßen
und anderen öffentlichen Orten als ordnungsstörend empfunden,
und der Schläfer muß gewärtigen, daß er mit der Polizei
in Konflikt gerät. In Großstädten wie Paris wird der Schlaf
der Clochards unter den Brücken oder in Metrostationen gerade noch
geduldet. Dagegen ist es aber auch für »feinere« Leute
durchaus akzeptabel, in öffentlichen Verkehrsmitteln, wie in der Eisenbahn
oder im Flugzeug, einzunicken.
Der Schlaf tagsüber, der für uns zum Inbegriff
der Faulheit und Arbeitsscheu geworden ist, hat im 19. Jahrhundert in Iwan
Alexandrowitsch Gontscharows berühmtem Roman »Oblomow«
ein bleibendes literarisches Denkmal erhalten: »Das Herumliegen war
für llja lljitsch weder eine Notwendigkeit, wie für einen Kranken
oder für einen Menschen, der schlafen möchte, noch eine Zufälligkeit,
wie für einen Müden, noch ein Genuß, wie für einen
Faulpelz: es war sein normaler Zustand. Wenn er zu Hause war (und er war
fast immer zu Hause), lag er stets im Bett und stets in dem gleichen Zimmer,
wo wir ihn vorfanden, das ihm gleichzeitig als Schlafgemach, Kabinett und
Salon diente.«[11] Der Romanheld verbringt
sein gesamtes Leben im Bett, während sein Freund vergeblich versucht,
ihn von den Vorzügen der Arbeit zu überzeugen.
Die Hinweise in diesem ersten Kapitel sollten wenigstens
andeutungsweise zeigen, daß auch kulturgeschichtliche, linguistische,
soziologische und andere nicht-naturwissenschaftliche Aspekte des Themas
»Schlaf« interessant und aufschlußreich sind. In den
folgenden Kapiteln werden wir uns neuen Entwicklungen der Schlafforschung
zuwenden, die zum großen Teil auf einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise
beruhen.
Abb. 1.4: »Die Nacht« (Hodler, 1890)
(64k JPG file)
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