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Das Geheimnis des Schlafs von A. Borbély - Kapitel 1
Buchausgabe © 1984 Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart (vergriffen)
Ausgabe für das Internet, 1998, A. Borbély, Universität Zürich.
 
Der Schlaf
im Wandel der Zeit
 
»Es sieht so aus,
als hätte die Welt auch uns Erwachsene nicht ganz,
nur zu zwei Dritteilen;
zu einem Drittel sind wir überhaupt noch ungeboren.
Jedes Erwachen am Morgen
ist dann wie eine neue Geburt.«
Sigmund Freud
 
 
 
Wenn wir abends zu Bett gehen, geraten wir in einen veränderten Bewußtseinszustand, der einige Stunden andauert. Wir sehen, hören und fühlen dabei nicht mehr bewußt, was um uns herum vorgeht. Diesen Zustand nennen wir Schlaf. Die Welt des Schlafens und die Welt des Wachens sind so verschieden, daß man sagen könnte, jeder von uns lebe in zwei Welten. Der Unterschied zeigt sich besonders eindrücklich, wenn wir nachts plötzlich aus dem Schlaf erwachen und dann eine Zeitlang noch nicht ganz bei uns sind. Der französische Dichter Marcel Proust schildert diesen Übergang besonders schön:
 
Aber es genügte, daß in meinem eigenen Bett mein Schlaf besonders tief war und meinen Geist völlig entspannte; dann ließ dieser den Lageplan des Ortes fahren, an dem ich eingeschlafen war, und wenn ich mitten in der Nacht erwachte, wußte ich nicht, wo ich war: ich hatte nur in primitivster Form das bloße Seinsgefühl, das ein Tier im Innern verspüren mag: ich war hilfloser ausgesetzt als ein Höhlenmensch; dann aber kam mir die Erinnerung - noch nicht an den Ort, an dem ich mich befand, aber an einige andere Stätten, die ich bewohnt hatte und an denen ich hätte sein können - gleichsam von oben her zu Hilfe, um mich aus dem Nichts zu ziehen, aus dem ich mir selbst nicht hätte heraushelfen können; in einer Sekunde durchlief ich Jahrhunderte der Zivilisation, und aus vagen Bildern von Petroleumlampen und Hemden mit offenen Kragen setzte sich allmählich mein Ich in seinen originalen Zügen wieder von neuem zusammen. [1]
 
Für die meisten Menschen ist der Schlaf so selbstverständlich, daß sie über seine Entstehung und seinen Sinn kaum nachdenken. Erst wenn er gestört ist, rückt der Schlaf ins Bewußtsein und wird zum »Problem«. Die Absicht dieses Buches ist es zu zeigen, daß der Schlaf in neuester Zeit als einer der grundlegenden Lebensvorgänge auch für die Wissenschaft immer interessanter geworden ist, und daß auf Grund neuer Erkenntnisse Antworten auf Fragen in Aussicht stehen, die die Menschen seit Jahrhunderten beschäftigt haben. Das Buch soll auch einen Eindruck davon vermitteln, mit wie vielen verschiedenen Wissensgebieten die Schlafforschung in Zusammenhang steht. Es gibt kaum einen anderen Zweig der modernen Naturwissenschaft, der in vergleichbarem Ausmaß sowohl für die Grundlagenforschung als auch unmittelbar für das Alltagsleben von Bedeutung ist und für den überdies noch jedermann, aufgrund eigener, langjähriger Erfahrung, gewissermaßen ein Spezialist ist.
 
 Abb. 1.1: »Die Nacht« (Ausschnitt), Michelangelo Buonarroti, Grabmal des Giuliano de Medici. (39k JPG file)
 
 
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Über das Wort »Schlaf«
 
» Schlaf « ist ein Wort altgermanischen Ursprungs, eine sogenannte Nominalbildung zu »schlafen« (gotisch »sleps« und alt- und mittelhochdeutsch »slaf«). Auch das niederländische »slaap« und englische »sleep« gehen auf diesen Ursprung zurück. »Schlafen« bedeutet ursprünglich »schlapp werden« und ist mit dem Eigenschaftswort »schlaff« verwandt. Im folgenden werden wir sehen, daß auch in der modernen Schlafforschung das Schlaffwerden der Muskulatur als wichtige Meßgröße zur Bestimmung der Schlafstadien dient.
 
Dem Wort »Schlummer« liegt die indogermanische Wurzel »slu« (schlaff, herabhängend) zugrunde. Das Wort »slummern« (englisch: to slumber) taucht zuerst im Mittelhochdeutschen und Niederdeutschen auf und ist erst im 16. Jahrhundert von Martin Luther in die Schriftsprache eingeführt worden. »Dösen« (englisch: to doze) wird vom Duden als »gedankenlos dasitzen, halb schlafen« definiert. Das Verb »dösen« ist erst im 19. Jahrhundert aus dem Niederdeutschen ins Schriftdeutsche eingedrungen. Verwandt ist es mit den Hauptwörtern »Dusel« und »Dunst«. Dösen bezeichnet denn auch einen geistig vernebelten Zustand. In der Umgangssprache verwendet man gelegentlich den Ausdruck »ein Nickerchen machen«. »Nicken« entstammt dem Mittelhochdeutschen, wo »nücken« so viel wie »nicken, stutzen, leicht schlummern« bedeutete. Wenn jemand schläft, sagt man zuweilen auch »er pennt«. Das Wort stammt aus der sogenannten Gaunersprache und ist wohl eine Ableitung von »Penne« (= einfaches Nachtlager, Herberge). Im Jiddischen bedeutet »pannai« müßig.
 
Vom Hauptwort »Schlaf« leiten sich verschiedene Begriffe ab, die mit ihm nur mehr in indirektem Bedeutungszusammenhang stehen. So wird beispielsweise »entschlafen« als ein Hüllwort für »sterben« verwendet. Etwas »beschlafen« oder »überschlafen« heißt, es bis zum nächsten Tag bedenken, um so Distanz zu einem bestimmten Problem zu gewinnen. Zum »Beischlaf« (das Wort stammt aus dem 15. Jahrhundert) kommt es, wenn Mann und Frau »zusammen schlafen«. Wie beim Ausdruck »entschlafen« ist auch hier ein Vorgang gemeint, der mit »schlafen« nicht direkt zusammenhängt und den man lieber nur umschreibt. Auch die »Schläfe« leitet sich von »Schlaf« ab, denn sie ist der Teil des Kopfes, auf welchem der Schlafende liegt. Einer, der zu viel oder zu lange schläft, wird als »Schlafmütze« bezeichnet. Dieser aus dem 17. Jahrhundert stammende Ausdruck bezog sich ursprünglich auf die Nachtmütze, die man beim Schlafen trug und wird seit dem 18. Jahrhundert im übertragenen Sinne gebraucht. Angeblich soll ihn Lessing erstmals so verwendet haben.
 
Werfen wir schließlich noch einen Blick über die Grenzen unseres eigenen Sprachraums hinaus. Wie die nachstehende Übersicht zeigt, liegt die Wurzel »son« oder »somn« dem Begriff »Schlaf« in verschiedenen indogermanischen Sprachen zugrunde: französisch »sommeil«; italienisch »sonno«; spanisch »sueño«; portugiesisch »somno«; rumänisch »somnul«, schwedisch »somn«; dänisch »sovn«; russisch »son«; polnisch »sen«; bulgarisch »sun«; serbo-kroatisch »san«; tschechisch »spanek«; hindi »sona«; griechisch »hypnos«.
 
In anderen Sprachen heißt »Schlaf«: ungarisch »alvas«; finnisch »uni«; türkisch »uyku«; hebräisch »shenah«; japanisch »nemuri«; chinesisch »shui jiao«; telugu (südindische Sprache) »nidura«; zulu »lala«.
 
 
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Der Schlaf - Bruder des Todes
 
Schon in der griechischen Sagenwelt sind der sanfte Schlaf, Hypnos, und der mitleidlose Tod, Thanatos, beide Söhne der Nachtgattin Nyx. Der römische Dichter Ovid nannte den Schlaf »Abbild des Todes«. »Er wohne in einer Höhle am Ufer des Lethebaches, wohin niemals die Sonne gelange. Am Eingang seiner Höhle stünden Mohn und tausenderlei Kräuter, aus denen die Nacht ihre Schlummersäfte gewinne, um damit das Land zu befeuchten.«[2] Auch für die Germanen waren Schlaf und Tod Geschwister, die beide als »Sandmann« bezeichnet wurden, was nach Kuhlen als » Sendbote « zu deuten ist, aber auch das Müdigkeitsgefühl von Kindern (»ich habe ein Gefühl wie Sand in den Augen«) bildhaft umschreibt.
 
Die Ruhe eines Schlafenden hat etwas Unheimliches an sich. Im Schlaf ist man schutzlos den Gefahren der Umwelt ausgeliefert. Wird man aus diesem geheimnisvollen Zustand wieder erwachen? Angesichts dieser bangen Frage ist es nicht erstaunlich, daß Menschen vor dem Einschlafen ein Gebet sprechen und sich zum Beispiel der Obhut von Schutzengeln anvertrauen. »Ich liege und schlafe und erwache; denn der Herr hält mich « heißt es im 3. Psalm. Der Gläubige kann ruhig und ohne Furcht schlafen, denn er weiß, daß der Herr wach ist. »Siehe, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht. Der Herr behütet dich« (Psalm 121,4.5). Im Alten Testament ist bereits im Schöpfungsbericht von Schlaf die Rede. Gemeint ist nicht der gewöhnliche, sondern ein außergewöhnlicher, tiefer Schlaf (hebräisch »tardema«), in welchen Gott Adam versetzt, um ihm zur Erschaffung Evas eine Rippe zu entnehmen.
 
Aber ruhiger Schlaf kann andererseits auf den ersten Blick leicht mit dem Tod verwechselt werden. Schlaf als Scheintod ist denn auch ein verbreitetes Motiv in Sage, Dichtung und Märchen. In Shakespeares Drama nimmt Julia eine Droge ein, um durch sie in einen mehrtägigen, todähnlichen Schlaf zu fallen und dadurch der lästigen Obhut ihrer Familie zu entrinnen. Das Unglück will es, daß nicht nur die Familie, sondern auch ihr Geliebter Romeo sich täuschen läßt. Die Geschichte nimmt deshalb ein schlimmes Ende. Besser ergeht es Schneewittchen, das zwar schon scheintot im Sarg liegt, aber im entscheidenden Augenblick doch noch erwacht. Den »Schlafrekord« hält ohne Zweifel Dornröschen. Hier ist es nicht eine Droge, sondern eine an sich harmlose Verletzung, die sie in einen vorhergesagten hundertjährigen Schlaf fallen läßt. Nicht nur sie selbst schläft ein, sondern mit ihr der König, die Königin und der gesamte Hofstaat, mitsamt Pferden, Hunden, Tauben und Fliegen. Pflanzen sind offensichtlich dem Zauber entzogen, denn eine Dornenhecke überwuchert das ganze Schloß. Der erlösende Kuß des Königssohns fällt genau mit dem Ende der hundertjährigen Schlafperiode zusammen, ist also nur scheinbar die Ursache des Erwachens, sicher aber der Hauptgrund für das Happy End.
 
Wenn wir bisher den Schlaf als einen dem Tode ähnlichen Zustand betrachtet haben, so können wir umgekehrt auch fragen, inwieweit der Tod als ein schlafähnlicher Zustand aufgefaßt werden kann. Im Johannes-Evangelium finden wir einen besonders eindrucksvollen Bericht, der diese Frage zum Thema hat. Die Rede ist vom kranken Lazarus. Jesus spricht zu seinen Jüngern: » Lazarus, unser Freund, schläft; aber ich gehe hin, daß ich ihn aufwecke. Da sprachen seine Jünger: Herr, schläft er, so wird's besser mit ihm. Jesus aber sagte von seinem Tode; sie meinten aber, er redete vom leiblichen Schlaf. Da sagte es ihnen Jesus frei heraus: Lazarus ist gestorben.«
 
Dann geht Jesus mit seinen Jüngern zum Grabe, in dem der Tote schon seit vier Tagen liegt, und ruft dort mit lauter Stimme: »Lazarus, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen und sein Angesicht verhüllt mit einem Schweißtuch.« Der Tote erwacht also zum Leben wie aus einem tiefen Schlafe. Über diesen biblischen Bericht hinaus hat seit langem die Frage die Menschen bewegt, ob mit dem Tode das Leben wirklich endgültig beendet sei oder ob der Tod ein schlafähnlicher Zustand sein könnte, aus dem es doch noch irgendein Erwachen gibt. Die Diskussion dieses Problems aber, das viele Menschen auch heute noch beschäftigt, würde uns hier zu weit vom eigentlichen Thema wegführen.
 
 Abb. 1.2: »Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. (1. Mose, 2,21-22; »Die Erschaffung der Eva«, in: Die heilige Schrift ..., illustriert von Gustav Doré, übersetzt von J. Franz von Allioli). (55k JPG file)
 
 
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Schlaf - Zustand der Seligkeit oder des dumpfen Unwissens?
 
In den östlichen Philosophien und Religionen wurde der Schlaf zuweilen als der eigentliche, wahre Zustand des Menschen dargestellt, in dem Individuum und Universum eins sind. Der chinesische Philosoph Chuang Tzu (300 v. Chr.) schrieb: »Alles ist eins; im Schlaf ist die Seele ungestört und aufgenommen in diese Einheit; im Wachen hingegen ist sie abgelenkt und sieht die verschiedenen Gegebenheiten der Welt.« [3]
 
In den altindischen philosophischen Texten der Upanishaden wurden die folgenden vier Seinsformen unterschieden: 1. Der Wachzustand, der allen Menschen gemeinsam ist; 2. der Zustand des Träumens; 3. der Zustand des Tiefschlafs; 4. der »vierte« (überbewußte) Zustand des eigentlichen Selbst. Der Tiefschlaf (susupta) ist jener Zustand, in welchem man nichts begehrt und nicht träumt. An anderer Stelle in den Upanishaden wird der Tiefschlaf mit dem eigentlichen Selbst in Zusammenhang gebracht: »Wenn man tief schläft, ruhig und heiter, und keinen Traum sieht, das ist das Selbst (Atman), das ist das Unsterbliche, Furchtlose, das ist Brahma.« [4]
 
In der jüdisch-christlichen Überlieferung wird der Schlaf selten als ein erstrebenswerter Zustand angesehen. So finden wir schon im Alten Testament die Mahnung: »Liebe den Schlaf nicht, daß du nicht arm werdest; laß deine Augen wacker sein, so wirst du Brot genug haben« (Sprüche 20,13). Nur der durch harte Arbeit redlich verdiente Schlaf ist ein guter Schlaf: »Wer arbeitet, dem ist der Schlaf süß, er habe wenig oder viel gegessen; aber die Fülle des Reichen läßt ihn nicht schlafen.« (Prediger 5,11.)
 
Den Schlaf als Sinnbild der Trägheit, des dumpfen Unwissens und Unglaubens finden wir in der Verteidigungsrede des griechischen Philosophen Sokrates vor dem Gericht in Athen:
 
»Wenn ihr also mir folgen wollt, werdet ihr meiner schonen. Ihr aber werdet vielleicht verdrießlich, wie die Schlummernden, wenn man sie aufweckt, um euch stoßen und mich, dem Anytos folgend, leichtsinnig hinrichten, dann aber das übrige Leben weiter fort schlafen, wenn euch nicht der Gott wieder einen andern zuschickt aus Erbarmen.« [5]
 
Im Christentum wird das Aufwachen oft im übertragenen Sinne verstanden. Im Neuen Testament finden wir beispielsweise den Aufruf: »Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.« (Epheser 5,14.) Das folgende Kirchenlied ruft ebenfalls die Menschen auf, aufzuwachen und ein neues Leben zu beginnen:
 
»Wach auf mein Herz: die Nacht ist hin, die Sonn ist aufgegangen. Ermuntre dich, mein Geist und Sinn, den Heiland zu empfangen, der heute durch des Todes Tür gebrochen aus dem Grab herfür der ganzen Welt zur Wonne.
 
Steh aus dem Grab der Sünden auf und such ein neues Leben. Vollführe deinen Glaubenslauf und laß dein Herz sich heben gen Himmel, da dein Jesus ist, und such, was droben, als ein Christ, der geistlich auferstanden.« (Benjamin Schmolck, 1672-1737.)
 
Auch in östlichen Kulturen wurde das Erwachen aus dem Schlaf in einem ähnlich übertragenen Sinne verwendet, wie zum Beispiel der Name »Buddha« zeigt: »der Erleuchtete, der Erweckte«, wobei sich »Buddha« von »budh« (= wecken) ableitet.
 
 
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Frühe Erklärungsversuche für den Schlaf: Von der Philosophie zur Naturwissenschaft. [6]
 
Aus der altgriechischen Zeit sind uns Äußerungen von Philosophen und Ärzten überliefert, in denen Erklärungen für den Ursprung des Schlafs angeführt werden. Empedokles von Agrigent, Schöpfer der Vier-Elemente-Lehre, nach der es kein Entstehen oder Vergehen sondern nur ein Mischen und Entmischen der Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde gibt, betrachtete den Schlaf als Folge einer mäßigen Abkühlung der im Blut befindlichen Wärme, beziehungsweise als die Absonderung des Elements »Feuer« von den drei anderen. Hippokrates dagegen, der »Vater der Heilkunst«, schloß aus der Abkühlung der Gliedmaßen, daß der Schlaf auf der Flucht von Blut und Wärme ins Innere des Körpers beruhe. Für den großen Philosophen und Naturforscher Aristoteles lag die unmittelbare Schlafursache in der aufgenommenen Nahrung, von der er annahm, sie gebe eine Ausdünstung in die Adern ab. Diese Dünste würden dann von der Lebenswärme in den Kopf getrieben, sammelten sich dort an und verursachten Schläfrigkeit. Alsdann kühlen sie sich im Gehirn ab, sinken wieder in tiefere Körperteile zurück und entziehen dabei dem Herzen Wärme. Dies führe schließlich zum Schlaf, der so lange andauere, bis die Nahrung verdaut sei und das für die oberen Körperregionen bestimmte reine Blut sich vom unreinen geschieden habe. Der Aristoteles-Interpret Alexander von Aphrodisias (2./3. Jahrhundert n. Chr.) knüpft an die Wärmetheorie an und argumentiert, durch die Ermüdung werde der Körper ausgetrocknet und verliere dadurch an Wärme, was schließlich zum Schlaf führe.
 
Im Mittelalter (12. Jahrhundert) betonte Hildegard von Bingen, Benediktinerin und Verfasserin medizinischer, naturkundlicher und mystischer Schriften, die Parallelen zwischen Schlaf und Nahrung und brachte beide in Zusammenhang mit dem Sündenfall. Kuhlen schildert ihre recht eigentümlichen Ansichten folgendermaßen: »Der Mensch bestehe aus zwei Teilen: aus Wachsein und Schlaf. So werde auch der menschliche Körper auf doppelte Weise ernährt, nämlich durch Speise und Ausruhen. - Vor dem Sündenfall sei Adams Schlaf ein »Schlaf zur Versenkung« (=»sopor«), also ein »tiefer«, kontemplativer Schlaf, und die Nahrung nur eine Nahrung zum Anschauen gewesen - alles nur, um den Menschen geistig-seelisch zu erfreuen und zu erbauen. Der Sündenfall habe seinen Körper schwach und gebrechlich gemacht wie den eines Toten im Vergleich zu einem Lebenden. Jetzt habe der Mensch Stärkung durch Nahrung und Schlaf nötig. Der Schlaf sei zu einem normalen Zustand bei allen Menschen geworden. Wie die Nahrung das Fleisch wachsen lasse, so erhole sich und wachse das Mark (»medulla«), das durch Wachen verdünnt und geschwächt werde, im Schlaf wieder heran.« [7]
 
Im 16. Jahrhundert wollte der berühmte Arzt Paracelsus die Medizin wieder näher an die Natur heranführen. Wie über viele andere Probleme hatte er auch über den Schlaf sehr bestimmte Ansichten: Er meinte, der natürliche Schlaf dauere sechs Stunden, beseitige die durch Arbeit aufgetretene Ermüdung und erquicke den Menschen. Er empfahl, man sollte weder zu viel noch zu wenig schlafen, sondern sich nach der Sonne richten, mit ihr aufstehen und bei Sonnenuntergang schlafen gehen.
 
Im 17. und 18. Jahrhundert wurde für die Erklärung des Schlafs oft eine eigenartige Verbindung von physiologischen Konzepten und Seelenlehre herangezogen. So meinte der britische Arzt und Physiologe Alexander Stuart, der Schlaf sei die Folge eines Knappwerdens des »animalen Lebensgeistes« (»spiritus animales«), der durch Arbeit und Bewegung erschöpft und ausgezehrt werde. Für den niederländischen Arzt Herman Boerhaave wird der »spiritus nervosi« durch das Gehirn aus dem Blut abgesondert. Der Schlaf komme dadurch zustande, daß die Flüssigkeit (»liquor«) im Gehirn in ihrer Bewegung gehindert werde, sich verbrauche und deshalb feine Gefäße und Nerven, die vom Gehirn zu den Sinnesorganen und willkürlichen Muskeln zögen, nicht mehr füllen könne. Die Theorie hat mit jener des Schweizer Arztes und Naturforschers Albrecht von Haller (1708-1777) gewisse Ähnlichkeiten, der meinte, das im Kopf verdichtete Blut komprimiere das Gehirn und schneide dadurch den Weg des »spiritus« in die Nerven ab. Für den deutschen Physiologen Jacob Fidelis Ackermann (1765-1815) spielte der damals neu entdeckte Sauerstoff eine besonders wichtige Rolle, indem er aus der eingeatmeten Luft den »Lebensäther« abscheide. Über das Blut gelange dieser ins Gehirn, wo er abgetrennt und gespeichert werde. Von den »Hirnkräften« in die Nerven und Muskeln getrieben, rufe er »animale Bewegung« hervor. Ermüdung führe zu einem Mangel an Lebensäther, doch im Schlaf könnten die Vorräte wieder aufgefüllt werden.
 
Mit der im 19. Jahrhundert aufkommenden Naturphilosophie rückten vorübergehend vermehrt mystische Konzepte in den Vordergrund. So schrieb beispielsweise Philipp Franz von Walther, Professor für Physiologie und Chirurgie: »Der Schlaf ist eine Hingebung des egoistischen Seyns in das allgemeine Leben des Naturgeistes, ein Zusammenfließen der besonderen Seele des Menschen mit der allgemeinen Naturseele.« [8]
 
Die Entwicklung der Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert führte zu Theorien, die den Schlaf ausschließlich auf physiologischer und chemischer Grundlage zu erklären suchten. So sah zum Beispiel Alexander von Humboldt die Ursache des Schlafs in einem Sauerstoffmangel, der Bonner Physiologe Eduard Friedrich Wilhelm Pflüger in der verminderten Aufnahme von Sauerstoff in die »lebenden Gehirnmoleküle«. Andere meinten, die Hauptursache liege in einer Blutleere der Hirnrinde, im Druck aufs Gehirn, in der Quellung der Nervenzellen oder in einer Umlagerung elektrischer Ladung in den Ganglien. Der deutsche Physiologe Wilhelm Thierry Preyer vertrat in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Meinung, Ermüdungsstoffe absorbierten den Sauerstoff aus dem Blut, der deshalb für die Funktion des tätigen Hirns nicht mehr zur Verfügung stehe. Er glaubte diese Stoffe als Milchsäure und Kreatin identifizieren zu können.
 
Allen diesen Theorien ist gemeinsam, daß sie zwar neue naturwissenschaftliche Konzepte zur Erklärung des Schlafs heranzogen, diese aber auf keinerlei eindeutige Befunde stützen konnten und sie im allgemeinen auch nicht durch Versuche zu überprüfen suchten. Das sollte den Wissenschaftlern unseres Jahrhunderts vorbehalten bleiben. In den folgenden Kapiteln - insbesondere in den Kapiteln 8 und 9 - werden wir auf diese wissenschaftlichen Entwicklungen zurückkommen.
 
Abb. 1.3: »Venus« (Giorgione, 1697). (22k JPG file)
 
 
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Schlafräume und Schlafzeiten: Zur Soziologie des Schlafs [9]
 
In unseren Breiten findet man in den meisten Wohnungen und Häusern separate Schlafzimmer. Das ist freilich eine relativ neue Errungenschaft. Noch im späten Mittelalter schliefen viele Menschen gemeinsam in einem Raum, der nicht nur zum Schlafen, sondern auch zu vielen anderen Zwecken diente. Die Dienstboten schliefen häufig in der Nähe ihrer Herrschaft, um jederzeit zur Verfügung zu stehen. Ein eigentliches Schlafzimmer finden wir erstmals an königlichen Höfen. Berühmt ist der Schlafraum des französischen Königs Ludwigs XIV., der nicht nur die räumliche Mitte des Palastes, sondern so etwas wie das Herrschaftszentrum des Königreichs bildete. Das morgendliche »Lever du Roi« - der Empfang durch Seine noch im Bett ruhende Majestät - war das wichtigste gesellschaftliche Ereignis des Tages. Die Einrichtung eines eigentlichen Schlafzimmers wurde dann von der adligen Oberschicht übernommen und erschien erst später in den bürgerlichen Häusern.
 
Schlafgelegenheiten waren früher sogar in Gaststätten zuweilen ein Problem. So berichtet Gleichmann von deutschen Badeorten des 17. Jahrhunderts, wo »aus Mangel an Schlafstellen die Hälfte der Gesellschaft nur bis Mitternacht schlief, während die andere Hälfte, die bis dahin den Vergnügungen nachging, alsdann zur Ablösung erschien«.[10] Auf dem Land blieben die alten Schlafgewohnheiten noch lange erhalten. Gleichmann zitiert einen Bericht über bretonische Bauern im 19. Jahrhundert, in dem unter anderem beschrieben wird, daß alle Familienmitglieder und Bediensteten in einem einzigen großen Bett schliefen. Durchreisenden Besuchern habe man ebenfalls gastfrei einen Platz im gemeinsamen Bett angeboten.
 
Die im 19. Jahrhundert zunehmende Distanz zwischen Frauen und Männern ist auch aus den Schlafgewohnheiten ersichtlich. In vornehmen Häusern hatten nun der Herr und die Dame des Hauses ein eigenes Ankleidezimmer, die Kinder ein Kinderzimmer. Es gab auch »das Zimmer der Söhne« und das der Töchter. Waren die Schlafräume in älterer Zeit leicht zugänglich gewesen, so wurden sie nun abgeschlossener und gehörten immer mehr zum Intimbereich. Die sich ändernde Einstellung spiegelt sich auch in den Gasthäusern und Spitälern wider, wo Massenlager seltener und Einzelzimmer immer häufiger wurden.
 
In früheren Zeiten war aber nicht nur der Schlafort, sondern auch die Schlafzeit weniger starr festgelegt als heute. Gleichmann weist auf Abbildungen aus dem ausgehenden Mittelalter - beispielsweise auf Gemälde der flämischen Schule - hin, auf denen häufig Menschen zu sehen sind, die tagsüber neben Häusern, an Wegen oder auf Feldern schlafen. Noch heute zeigen sich Reisende in Ländern wie Indien beeindruckt von den vielen Menschen, die tagsüber schlafend im Freien zu sehen sind. In Europa verbreitete sich immer mehr die Auffassung, daß sowohl zu gewissen Tageszeiten als auch an gewissen Orten nicht geschlafen werden sollte. So wird zum Beispiel das Schlafen auf Straßen und anderen öffentlichen Orten als ordnungsstörend empfunden, und der Schläfer muß gewärtigen, daß er mit der Polizei in Konflikt gerät. In Großstädten wie Paris wird der Schlaf der Clochards unter den Brücken oder in Metrostationen gerade noch geduldet. Dagegen ist es aber auch für »feinere« Leute durchaus akzeptabel, in öffentlichen Verkehrsmitteln, wie in der Eisenbahn oder im Flugzeug, einzunicken.
 
Der Schlaf tagsüber, der für uns zum Inbegriff der Faulheit und Arbeitsscheu geworden ist, hat im 19. Jahrhundert in Iwan Alexandrowitsch Gontscharows berühmtem Roman »Oblomow« ein bleibendes literarisches Denkmal erhalten: »Das Herumliegen war für llja lljitsch weder eine Notwendigkeit, wie für einen Kranken oder für einen Menschen, der schlafen möchte, noch eine Zufälligkeit, wie für einen Müden, noch ein Genuß, wie für einen Faulpelz: es war sein normaler Zustand. Wenn er zu Hause war (und er war fast immer zu Hause), lag er stets im Bett und stets in dem gleichen Zimmer, wo wir ihn vorfanden, das ihm gleichzeitig als Schlafgemach, Kabinett und Salon diente.«[11] Der Romanheld verbringt sein gesamtes Leben im Bett, während sein Freund vergeblich versucht, ihn von den Vorzügen der Arbeit zu überzeugen.
 
Die Hinweise in diesem ersten Kapitel sollten wenigstens andeutungsweise zeigen, daß auch kulturgeschichtliche, linguistische, soziologische und andere nicht-naturwissenschaftliche Aspekte des Themas »Schlaf« interessant und aufschlußreich sind. In den folgenden Kapiteln werden wir uns neuen Entwicklungen der Schlafforschung zuwenden, die zum großen Teil auf einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise beruhen.
 
Abb. 1.4: »Die Nacht« (Hodler, 1890) (64k JPG file)
 
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