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Das Geheimnis des Schlafs von A. Borbély
- Kapitel 9
Buchausgabe © 1984 Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart
(vergriffen)
Ausgabe für das Internet, 1998, A. Borbély, Universität
Zürich.
Die Suche
nach körpereigenen
Schlafstoffen
Unsere Forschungsarbeiten haben gezeigt,
daß durch die Ansammlung von Hypnotoxin
ein immer stärkeres Schlafbedürfnis entsteht.
Henry Piéron, 1913
»Wissenschaftler fanden Substanz,
die den natürlichen Schlaf bewirkt!« -
»Der Stoff, aus dem Träume sind,
kann möglicherweise schon in wenigen Jahren
in Form von Dragees gekauft werden!« -
»Stille Revolution auf dem Schlafmittelmarkt!« -
»Schlaf aus der Retorte!«
Immer wieder tauchen in der Presse solche und ähnliche Schlagzeilen
auf, die von angeblichen sensationellen Entdeckungen körpereigener
Schlafsubstanzen berichten. Für die meisten Leser ist es nicht einfach,
sich ein Bild von der tatsächlichen Bedeutung solcher Berichte zu
machen. Gibt es wirklich Substanzen, die der Körper selbst produziert,
um den Schlaf herbeizuführen ?
Bis vor wenigen Jahren wurde diese Möglichkeit von den meisten
Fachleuten nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Die Arbeiten jener wenigen
Wissenschaftler, die diese Hypothese experimentell untersuchten, wurden
kaum beachtet. Sie befanden sich zu weit abseits der Hauptrichtungen neurobiologischer
Forschung. Dementsprechend war es auch ein nicht alltäglicher Forschertyp,
der sich mit der Suche nach körpereigenen Schlafstoffen befaßte.
Es waren Männer, die vor der Außenseiterrolle nicht zurückscheuten
und bereit waren, ihre Idee über Jahre und Jahrzehnte beharrlich und
hartnäckig zu verfolgen. Sie konnten sich dabei nicht, wie viele ihrer
Kollegen, von der Welle der eben aktuellen Modeforschung mittragen lassen,
und ihre Arbeiten fanden wenig Unterstützung und Aufmerksamkeit. Viele
fragten sich, ob diese Forscher verschrobene Sonderlinge oder doch geniale
Pioniere seien.
Mitte der siebziger Jahre trat eine Wende ein. Ein junger schottischer
Wissenschaftler entdeckte völlig unerwartet eine neue Klasse körpereigener,
schmerzstillender Substanzen im Gehirn, die ähnlich wirken wie die
bekannten Schmerzmittel Opium und Morphin. Sie erhielten die Bezeichnung
Enkephaline und Endorphine und gehören zur chemischen Gruppe der Peptide,
welche Bausteine der Eiweißkörper (Proteine) sind. Noch vor
einem Jahrzehnt wäre die Vermutung, daß solche körpereigenen
Opiate im Gehirn vorkommen, als eine absonderliche und höchst unwahrscheinliche
Spekulation abgetan worden: Denn Gehirnfunktionen wie Schlaf und Schmerz
wurden damals fast ausschließlich im Hinblick auf Veränderungen
der Neurotransmittoren untersucht. In der Zwischenzeit sind indessen verschiedene
Peptide bekannt geworden, die im Gehirn ähnlich wirken wie Transmittoren
oder Hormone und deren Beziehungen zu den schon lange bekannten »klassischen«
Neurotransmittoren Gegenstand intensiver Forschungsarbeiten geworden sind.
Diese neue Entwicklung erschütterte viele, scheinbar fest verankerte
Theorien. Eine positive Folge davon war, daß den Wissenschaftlern
das Ausmaß ihres Nichtwissens wieder klarer vor Augen stand und sie
deshalb unkonventionellen Forschungsrichtungen offener gegenübertraten.
Heute wird die Vorstellung, daß spezifische körpereigene Substanzen
auch an der Schlafregulation beteiligt sein könnten, nicht mehr als
ein abstruses Hirngespinst abgetan, sondern auch von führenden Schlafforschern
bereits sehr ernsthaft diskutiert.
Die frühen Experimente von Professor
Piéron
»Wird der Wachzustand lange Zeit aufrechterhalten,
so wird das Schlafbedürfnis immer vorherrschender, bis es schließlich
unüberwindlich ist. Dieses Phänomen geht mit einer Vergiftung
durch eine hypothetische Substanz einher, die die Eigenschaften von Toxinen
hat ...« Diese Sätze sind dem Buch »Le problème
physiologique du sommeil« entnommen, das der Pariser Physiologe Henri
Piéron im Jahre 1913 veröffentlicht hat.[43]
Piéron stellt darin die Hypothese auf, im Körper reichere sich
im Laufe der Wachzeit ein »Schlafgift« (Hypnotoxin) an, das
für das zunehmende Schlafbedürfnis verantwortlich sei. Im Schlaf
werde dann diese Substanz abgebaut und ausgeschieden. Um diese Hypothese
zu überprüfen, machte Piéron Versuche an Hunden, die er
tagsüber wachhielt und auch nachts am Schlafen hinderte, indem er
sie durch die Straßen von Paris spazierenführte. Dann entnahm
er aus dem Gehirn der Tiere Liquor (die Flüssigkeit, welche die Gehirnkammern
erfüllt) und injizierte ihn in den Liquorraum normal ausgeruhter Tiere.
In Übereinstimmung mit seiner Hypothese beobachtete er, daß
die Empfängertiere nach der Injektion einschliefen.
Aus heutiger Sicht sind allerdings Piérons
Befunde nicht sehr überzeugend, da die damalige Methode der Liquorentnahme
und Liquorinjektion wahrscheinlich mit erheblichem Streß verbunden
war und dadurch das Verhalten der Tiere beeinflußte. Trotz dieser
Vorbehalte bleibt es aber Piérons eindeutiger Verdienst, als erster
eine klare, neurochemische Hypothese der Schlafregulation formuliert und
experimentell untersucht zu haben.
Faktor S und SPS: moderne »Hypnotoxine«
?
Obwohl Piérons Experimente in den ersten
Jahrzehnten unseres Jahrhunderts recht bekannt wurden, machte sich nur
eine Forschergruppe die Mühe, seine Befunde zu überprüfen:
Im Jahre 1939 konnten die amerikanischen Forscher J. G. Schnedorf und A.
C. Ivy Piérons Befunde weitgehend bestätigen.
In der Mitte der sechziger Jahre begann dann John
Pappenheimer, Professor für Physiologie an der Harvard Universität
in Boston, eine Versuchsserie, um das Problem der körpereigenen Schlafstoffe
weiter aufzuklären. Pappenheimer hatte sich in seiner früheren
Forschungsarbeit auf die Physiologie der Liquorzirkulation spezialisiert
und dabei eine Methode entwickelt, die es erlaubte, bei Ziegen durch permanent
im Gehirn implantierte Kanülen Liquor zu entnehmen, ohne die Tiere
durch diese Prozedur erheblich zu belasten. Die Ziege bot den Vorteil,
daß wegen ihrer Körpergröße eine relativ große
Menge Liquor gewonnen werden konnte. Pappenheimer und seine Mitarbeiter
hinderten die Ziegen während zwei bis drei Tagen am Schlafen, entnahmen
ihnen während des Schlafentzuges zu verschiedenen Zeiten Liquor und
injizierten diesen in den Liquorraum von Ratten, die ebenfalls mit permanent
implantierten Hirnkanülen versehen waren. Die Ratte wurde als Empfängertier
gewählt, da sie wegen ihrer kleinen Körpergröße nur
geringe Mengen von Liquor zum Test benötigt. Der Versuch ergab, daß
Ratten, die Liquor von schlafdeprivierten Ziegen erhalten hatten, mehr
schliefen als Kontrolltiere, denen Liquor von ungestörten Ziegen verabreicht
worden war.
Die ersten Ergebnisse schienen also die Hypnotoxin-Hypothese
zu bestätigen. Nun stellte sich aber die Frage nach der chemischen
Struktur des im Liquor enthaltenen Schlafstoffs, den Pappenheimer vorerst
als Faktor S (S = sleep, Schlaf) bezeichnete. Zur Beantwortung der Frage
begann eine langwierige Serie von Experimenten, die fünfzehn Jahre
dauern sollte. Ihr Ziel war, Faktor S zu reinigen, um schließlich
seine chemische Struktur zu bestimmen. James Krueger, ein junger Biochemiker,
war für den chemischen Teil der Arbeiten verantwortlich. Der Liquor
der Spendertiere wurde durch chemische Methoden in mehrere Fraktionen aufgeteilt,
die sich in ihren Inhaltsstoffen unterschieden. Dann wurde eine nach der
andern auf ihre schlafinduzierende Wirkung hin untersucht, um festzustellen,
in welcher Fraktion Faktor S enthalten war. Dieser Vorgang wurde mehrfach
wiederholt und so der unbekannte Schlafstoff nach und nach in der Lösung
konzentriert. Bald zeigte sich, daß die Menge des verfügbaren
Liquors zur Isolierung der Wirksubstanz nicht ausreichte, da Faktor S offenbar
in außerordentlich geringer Konzentration vorlag. Pappenheimer und
Mitarbeiter gingen daher dazu über, als Ausgangsmaterial Gehirne von
Schlachtvieh zu benützen. Als Empfängertier wählten sie
bald das Kaninchen, das sich für diese Experimente als geeigneter
erwies als die Ratte, da der Schlaf von Tier zu Tier weniger variiert.
Es zeigte sich, daß die mit Faktor S angereicherten Fraktionen vor
allem den Non-REM-Schlaf-Anteil erhöhten und große langsame
EEG-Wellen bewirkten (das Kaninchen hat nur sehr wenig REM-Schlaf). Das
EEG-Muster war dabei jenem sehr ähnlich, das nach Schlafdeprivation
typischerweise auftritt. Die schlaffördernde Wirkung von Faktor S
hielt einige Stunden an, wobei alle Anzeichen eines natürlichen Schlafes
vorhanden waren.
Indessen zeigte sich bald, daß auch die Menge
der verfügbaren Gehirne von Schlachtvieh nicht ausreichte, um den
Schlafstoff zu isolieren. Pappenheimer und Mitarbeiter überwanden
diese Schwierigkeit auf höchst originelle Weise: Da sie inzwischen
erkannt hatten, daß die Schlafsubstanz sehr stabil ist, folgerten
sie, daß Faktor S zum großen Teil im Urin ausgeschieden werden
muß. Im Gegensatz zu Gehirngewebe ist aber Urin in fast beliebiger
Quantität verfügbar. Sie benutzten als Ausgangsmaterial große
Mengen von menschlichem Urin, der zu einem anderen medizinischen Zweck
gesammelt worden war, und konnten bestätigen, daß im Harn Schlafsubstanz
vorhanden ist. Von diesem Moment an schritt die Isolierung rasch voran.
Im Jahre 1981 war die Zusammensetzung von Faktor S bekannt, obwohl die
Bestimmung der endgültigen chemischen Struktur (Sequenzanalyse) noch
fehlte. Faktor S erwies sich als ein aus fünf Aminosäuren bestehendes,
relativ kleines Peptid. Ganz unerwartet war Muraminsäure einer der
Bestandteile des Peptids. Sie kommt in Zellmembranen von Bakterien vor,
wurde aber bis dahin in höherentwickelten Tieren nicht nachgewiesen.
Eine Muraminsäure-Verbindung, das Muramyldipeptid (MDP), ist aus der
Immunforschung schon seit einiger Zeit als Substanz bekannt, welche die
Abwehrreaktion des Organismus gegen körperfremde Substanzen stimuliert
und Fieber erzeugt. Krueger und Pappenheimer konnten zeigen, daß
auch MDP bei Kaninchen Schlaf induziert. Der Erfolg dieser Arbeiten sollte
aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine ganze Reihe
wichtiger Fragen noch offen ist. Vor allem ist die Struktur der Schlafsubstanz
immer noch nicht endgültig geklärt, so daß sie noch nicht
künstlich hergestellt werden kann. Wenn dieser Schritt getan ist,
wird es wichtig sein, die schlafinduzierende Wirkung auch in anderen Laboruntersuchungen
zu bestätigen. Dann muß die Frage, ob die verschiedenen Tierarten
auf die Substanz ansprechen, auch noch geklärt werden. Pappenheimer
und Mitarbeiter haben bisher über positive Resultate bei Ratten, Katzen,
Kaninchen und Affen berichtet.
Verlassen wir nun den amerikanischen Kontinent,
um uns einem ähnlichen, hochinteressanten Projekt in Asien zuzuwenden.
In der Mitte der siebziger Jahre begann eine japanische Arbeitsgruppe die
Hypnotoxintheorie mit modernen Methoden systematisch zu untersuchen. Das
Team wurde von Professor Koji Uchizono geleitet, einem bekannten Physiologen,
der heute Direktor eines großen nationalen medizinischen Forschungsinstitutes
in Japan ist. Shojiro Inoué, ein Biokybernetiker und Professor an
der bekannten medizinischen und zahnmedizinischen Universität von
Tokyo, übernahm mit Hiroaki Nagasaki die Tierversuche. Professor Yasuo
Komoda, ein Biochemiker, leitete den chemischen Teil der Arbeiten. Der
experimentelle Ansatz war jenem von Pappenheimers Gruppe ähnlich:
Ratten wurden einen Tag lang am Schlaf gehindert und anschließend
getötet. Ihr Gehirn diente als Ausgangsmaterial zur Isolierung schlafinduzierender
Substanzen. Professor Inoué und sein Mitarbeiter Kazuki Honda hatten
eine außerordentlich subtile Methode zur Untersuchung der schlaffördernden
Wirkung von Gehirnfraktionen entwickelt. Die Empfängertiere, ebenfalls
Ratten, trugen neben den üblichen, der Schlafregistrierung dienenden
Gehirn- und Muskelelektroden, eine permanent implantierte Gehirnkanüle.
Durch diese konnte ständig Flüssigkeit in den Liquorraum infundiert
werden, die entweder aus einer unwirksamen Kontrollösung oder aus
der zu prüfenden Fraktion bestand. Um den Einfluß äußerer
Faktoren möglichst gut kontrollieren zu können, wurden die Tiere
bei konstanter Umgebungstemperatur und unter einem festgelegten Hell-Dunkel-Zyklus
gehalten. Mit dieser Methode konnte die Forschergruppe nachweisen, daß
im Gehirn von schlafdeprivierten Spendertieren eine Substanz vorhanden
ist, die bei Empfängertieren den Schlaf fördert. Der Schlafstoff
erhielt die Bezeichnung SPS (Sleep Promoting Substance). Die Untersuchungen
zeigten, daß SPS bis zu 24 Stunden nach Ende der Infusion noch wirkt,
wobei die Wirkung auch davon abhängt, in welcher Phase des Hell-/Dunkel-Rhythmus
die Substanz verabreicht wurde. Die chemische Struktur von SPS ist noch
nicht bekannt.
Auch an der Universität Zürich haben wir
Hinweise auf schlafinduzierende Stoffe im Liquor von Ratten gefunden. Mitte
der siebziger Jahre konnten wir zusammen mit den damaligen Medizinstudenten
Josef Sachs und Jan Ungar zeigen, daß der Liquor von Spendertieren
die motorische Aktivität der Empfängertiere verändert. Befanden
sich die Spendertiere zur Zeit der Liquorentnahme in der aktiven Phase
ihres Tageszyklus, so wurde die Aktivität der Empfängertiere
erhöht. Dagegen führte der Liquor von inaktiven Empfängertieren
zu einer Aktivitätsverminderung. In späteren, gemeinsam mit Irene
Tobler durchgeführten Untersuchungen brachten wir kleine Mengen von
Liquor schlafdeprivierter Ratten in den Liquorraum normaler Ratten und
beobachteten eine Zunahme des Schlafs. Um die wirksamen Substanzen zu identifizieren,
hätten diesen vorläufigen Untersuchungen ausgedehnte Experimente
folgen müssen.
DSIP—ein Schlafstoff?
Anfang der sechziger Jahre machte sich Marcel Monnier,
Professor für Physiologie an der Universität Basel, auf die Suche
nach körpereigenen Schlafsubstanzen. Diese Arbeiten sollten zwei Jahrzehnte
in Anspruch nehmen. Monnier war Schüler des Zürcher Professors
und Nobelpreisträgers W. R. Hess. Wie bereits im vorangehenden Kapitel
erwähnt, konnte Hess zeigen, daß elektrische Reizung im Mittelhirn
Schlaf erzeugt. Dieses Verfahren benützte Monnier, um Kaninchen in
Schlaf zu versetzen. In Anlehnung an die Piéron-Befunde nahm er
an, daß die elektrische Hirnreizung eine Schlafsubstanz freisetzt,
die auch in der Blutbahn nachweisbar ist. Unterstützt von zwei jungen
Medizinstudenten, Theodor Koller (heute Professor für Zellbiologie
an der ETH Zürich) und Luzius Hösli (heute Professor für
Physiologie an der Universität Basel), arbeitete er ein Verfahren
aus, um mit einer halbdurchlässigen Membran einen bestimmten Teil
der Plasmaflüssigkeit, der die Schlafsubstanz enthalten könnte,
aus dem Blut schlafender Tiere abzutrennen. Die Verabreichung dieses Blutanteils
an normale Empfängertiere führte zu Schlaf. Ähnlich wie
Pappenheimer wurde auch Monnier in der späteren Phase seines Projektes
von einem Chemiker, Professor Guido Schoenenberger, unterstützt, der
die Reinigung und Identifikation der Substanz durchführte. Er konnte
schließlich zeigen, daß durch die Reizung im Mittelhirn ein
aus neun Aminosäuren bestehendes Peptid freigesetzt wird. Die Substanz
erhielt den Namen »Delta Sleep Inducing Peptide« (DSIP), da
vor allem ein Schlaf mit langsamen EEG-Wellen (Delta-Wellen) beobachtet
wurde. Nachdem die vollständige Aufklärung der Struktur von DSIP
gelungen war, konnte das Peptid ohne größere Schwierigkeiten
künstlich (synthetisch) hergestellt werden. Nach Monnier und Schoenenberger
unterschieden sich die Wirkungen des natürlichen und künstlichen
Produktes in keiner Weise.
Seit DSIP im Handel erhältlich ist, wurde es
von verschiedenen Forschergruppen eingehend untersucht. Betrachtet man
diese Untersuchungen insgesamt, so ergibt sich ein unklares Bild. Nicht
alle Arbeitsgruppen konnten bestätigen, daß DSIP tatsächlich
den Schlaf herbeiführt. Bei einigen sorgfältigen Untersuchungen
war überhaupt keine Wirkung feststellbar. In Experimenten mit positiven
Ergebnissen wurden unterschiedliche Veränderungen der Schlafstadien
festgestellt. Während beim Kaninchen die Verlängerung des Schlafes
mit langsamen Wellen (Delta-Schlaf) im Vordergrund stand, wurde bei der
Katze vor allem eine Erhöhung des REM-Schlafs beschrieben. Nach ersten
Versuchen von intravenöser DSIP-Injektion bei Menschen wurde über
eine schlafbegünstigende Wirkung berichtet, die jedoch erst viele
Stunden nach Verabreichung des Peptids in Erscheinung trat.
Neben der Wirkung auf den Schlaf sind auch noch
andere Befunde schwer zu interpretieren. So ist unklar, weshalb DSIP nicht
nur im Gehirn, sondern auch in anderen Organen (z. B. Leber, Lunge, Darm)
vorkommt. Die Verabreichung des Peptids scheint auch die Regulation der
Körpertemperatur zu beeinflussen. Aufgrund dieser mannigfaltigen Wirkungen
ist Schoenenberger zu dem Schluß gekommen, DSIP sei nicht ein spezifischer
Schlafstoff, sondern ein »Programmierer« von tagesrhythmischen
Prozessen. Doch auch für eine solche Annahme gibt es vorläufig
nur wenig konkrete Anhaltspunkte. Vielleicht ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen,
daß die elektrische Reizung des Mittelhirns der Isolation von DSIP
zugrunde lag. Eine Reizung von Hirnarealen kann aber nicht nur Schlaf induzieren,
sondern daneben noch eine ganze Reihe anderer physiologischer Effekte erzeugen,
was die Vielfalt der beobachteten Wirkungen dieses Peptids erklären
könnte. Jedenfalls ist aus den bisherigen Untersuchungen klar geworden,
daß die Wirkungen von DSIP weiterhin eingehend untersucht werden
müssen.
Gibt es einen REM-Schlafstoff?
Die bisher besprochenen vermutlichen Schlafstoffe
Faktor S, SPS und DSIP fördern vor allem den Tiefschlafanteil des
Non-REM-Schlafs. Gibt es Schlafsubstanzen, die spezifisch an der Regulation
von REM-Schlaf beteiligt sind? Die umfassendsten Arbeiten in dieser Richtung
stammen vom mexikanischen Schlafforscher Raoul Drucker-Colin. In seinen
in den sechziger Jahren begonnenen, an Katzen durchgeführten Untersuchungen
durchströmte er das zwischen zwei chronisch implantierten Kanülen
liegende Gewebe des Hirnstamms mit einer kleinen Menge Flüssigkeit.
Er beobachtete dabei, daß nach einer REM-Schlafperiode in der ausströmenden
Flüssigkeit eine erhöhte Menge von Eiweiß enthalten war.
Behandelte er die Tiere vor dem Versuch mit Substanzen,
die den Eiweiß-Aufbau im Gehirn hemmen, so beobachtete er, daß
der REM-Schlaf verschwand. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, daß
während REM-Schlafperioden im Hirnstamm gewisse, noch nicht identifizierte
Eiweiß-Substanzen freigesetzt werden, die an der Regulation dieses
Stadiums beteiligt sein könnten. In den letzten Jahren nahm Drucker-Colin
neue, immunologische Methoden zu Hilfe, um die Frage der Eiweißfreisetzung
im REM-Schlaf weiter zu klären. Er konnte zeigen, daß die Injektion
von Antikörpern, die gegen die Eiweißfraktion gerichtet sind,
den REM-Schlaf reduzieren. Da indessen der REM-Schlaf durch alle möglichen
Einflüsse gehemmt werden kann, ist noch unklar, ob Drucker-Colins
Substanzen bei der Steuerung des REM-Schlafs eine spezifische Rolle spielen.
Andere Hinweise auf den REM-Schlaf regulierende,
körpereigene Substanzen stammen aus dem Laboratorium von Jouvet in
Lyon. Dort wurden Tiere während einiger Zeit am REM-Schlaf gehindert,
worauf ihnen Liquor entnommen wurde. Empfängertiere waren mit dem
Serotonin- Synthesehemmstoff PCPA vorbehandelt worden, wodurch ihr REM-Schlaf
nahezu vollständig unterdrückt war. Der von solchen Spendertieren
gewonnene Liquor konnte diese Hemmwirkung auf den REM-Schlaf rückgängig
machen. Offensichtlich war im Liquor der Spendertiere, denen REM- Schlaf
entzogen worden war, ein REM-Schlaf fördernder Stoff vorhanden.
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß dies
alles nur vorläufige Befunde sind, die noch nicht als Beweise angesehen
werden können, daß tatsächlich spezifische Stoffe für
die Steuerung des REM- Schlafs verantwortlich sind.
Weitere Schlafstoffkandidaten
Es gibt eine ganze Reihe körpereigener Substanzen,
bei denen eine schlaffördernde Wirkung beobachtet wurde. Wir wollen
hier nur einige wenige Beispiele betrachten.
Die Zirbeldrüse (Pinealis) sitzt verborgen
zwischen den Großhirnhemisphären. Ihre Funktion ist noch weitgehend
ungeklärt. Die Drüse setzt das Hormon Melatonin frei, dessen
Konzentration in der Nacht besonders hoch ist. Auf Grund von zwei Untersuchungen
an Menschen und an Versuchstieren wurde berichtet, daß die Verabreichung
von Melatonin den Schlaf begünstigt. In einer gemeinsam mit Josephine
Arendt, einer englischen Biochemikerin, kürzlich durchgeführten
Untersuchung bewirkten kleine Dosen von Melatonin, die von Versuchspersonen
während eines Monats jeweils am Nachmittag eingenommen wurden, in
den frühen Abendstunden ein ausgeprägtes Schlafbedürfnis.
Hier muß noch geklärt werden, ob es sich um eine direkte Wirkung
auf die Schlafregulation handelt oder ob der Schlaf nur indirekt beeinflußt
wird.
Beträchtliches Aufsehen hat in den letzten
Jahren das Hormon Arginin Vasotocin (AVT) erregt. Eine rumänische
Forschergruppe veröffentlichte 1977 einen Bericht, wonach die Injektion
extrem kleiner Mengen (nur 600 Moleküle) in den Liquorraum der Katze
Schlaf erzeugte. Obwohl diese Ergebnisse von anderen Gruppen nicht bestätigt
wurden, unternahm man in Rumänien bereits Versuche am Menschen. Man
hat die Substanz Jugendlichen, ja sogar Kleinkindern verabreicht. Wiederum
wurde eine schlaffördernde Wirkung beschrieben, wobei vor allem die
Erhöhung des REM-Schlafs im Vordergrund stand. Da solche Versuche
in den meisten Ländern nicht durchgeführt werden, ist die Überprüfung
dieser Befunde schwierig. Schließlich haben Françoise Riou,
Raymond Cespuglio und Michel Jouvet in Lyon kürzlich über die
schlaffördernde Wirkung von »vasoaktivem intestinalem Polypeptid«
(VIP) berichtet. Es handelt sich um ein aus mehreren Aminosäuren bestehendes
Peptid, das im Körper vorkommt und unter anderem auch auf Blutgefäße
und Darm einwirkt. Erst kürzlich wurde VIP im Gehirn nachgewiesen.
Die Lyoner Gruppe fand, daß die Injektion in den Liquorraum der Ratte
den Schlafanteil (in der Lichtphase besonders den REM-Schlaf) erhöhte.
Neue Entwicklungen und Schlußfolgerungen
Wir haben die Arbeiten von Shojiro Inoué
und James Krueger bereits kennengelernt. Kürzlich begannen diese beiden
Forscher ganz neue Spuren zu verfolgen. Im Jahre 1983 fanden Inoué
und Kollegen in Zusammenarbeit mit einer an der Universität Kyoto
tätigen Gruppe, daß Prostaglandin D2 Schlaf erzeugt, wenn es
in außerordentlich kleinen Mengen in den Liquorraum der Ratte injiziert
wird. Prostaglandine sind körpereigene Substanzen, die vor allem beim
Entzündungsvorgang, aber auch bei der Fieberentstehung eine wichtige
Rolle spielen. Entzündungs- und fieberhemmende Mittel wie z. B. Aspirin
üben ihre Wirkung aus, indem sie den Aufbau von Prostaglandinen hemmen.
Es gibt verschiedene Prostaglandine, die nicht alle gleich gut untersucht
sind. Insbesondere ist über die Funktion von Prostaglandin D2 noch
wenig bekannt, obwohl gerade dieses im Gehirn der Ratte in der höchsten
Konzentration vorhanden ist. Zufällig stieß die Arbeitsgruppe
von Ryuji Ueno und Osamu Hayaishi in Kyoto auf die schlaffördernde
Wirkung dieses Stoffes, die anschließend durch sorgfältige Untersuchungen
in Tokyo bestätigt wurde. Aufregend an dem Befund ist vor allem, daß
die zur Schlafinduktion erforderliche Menge mit der im Gehirngewebe vorhandenen
Konzentration gut übereinstimmt. Somit sind keine hohen »pharmakologischen«
Dosen für eine Wirkung nötig, was die Vermutung unterstützt,
daß die natürlich vorkommenden Schwankungen der Prostaglandin
D2- Konzentration im Gehirn bei der Steuerung des Schlafes eine Rolle spielen.
Es gibt aber noch einen weiteren Anhaltspunkt für
einen Zusammenhang zwischen Abwehrreaktionen (sog. Immunreaktionen), die
z. B. bei einer Entzündung aktiviert werden, und dem Schlaf. Interleukine
gehören zu einer Gruppe von Stoffen, die aus weißen Blutkörperchen
freigesetzt werden und wahrscheinlich bei der Abwehr von eingedrungenen
Mikroorganismen eine Rolle spielen. Wie der Zürcher Immunologe Adriano
Fontana und seine Mitarbeiter gezeigt haben, wird Interleukin auch in Gewebskulturen
gewisser Hirnzellen gebildet. Offensichtlich übt die Substanz im Gehirn
eine, wenn auch noch unbekannte Funktion aus. Krueger hat nun kürzlich
berichtet, daß die Injektion kleinster Mengen von Interleukin in
den Liquorraum von Kaninchen nach wenigen Minuten Schlaf auslöst.
Bemerkenswert an diesem Befund ist auch, daß das Intervall zwischen
Injektion und Schlafeintritt bedeutend kürzer ist als für Faktor
S oder Prostaglandin D2. Die zum Auslösen des Schlafes erforderliche
Menge, die bisher nur auf Schätzungen beruht, da die chemische Struktur
von Interleukin noch nicht geklärt ist, ist kleiner als bei allen
bisher geprüften Substanzen, sieht man von den unbestätigten
Befunden mit Vasotocin ab. Nach diesen ersten, Aufsehen erregenden Befunden
müssen nun weitere Resultate abgewartet werden, um ein noch klareres
Bild von der Bedeutung dieser Entdeckungen zu gewinnen.
Wie wir bereits gesehen haben, sind die heute verfügbaren
Schlafmittel keine idealen Medikamente. Vor allem die genaue Untersuchung
des Schlaf-EEG hat gezeigt, daß sich der durch Schlafmittel bewirkte
Schlaf vom natürlichen Schlaf unterscheidet. Für die Behandlung
von Schlafstörungen wäre es daher ein riesiger Fortschritt, wenn
körpereigene Schlafsubstanzen eingesetzt werden könnten. Denn
es wäre ja denkbar, daß gewisse Schlafstörungen auf einem
Mangel an solchen Substanzen beruhen und daß dieser durch Zufuhr
von außen behoben werden könnte. Eine solche Ersatztherapie
ist bei der Zuckerkrankheit schon lange bekannt: Das in ungenügendem
Ausmaß von der Bauchspeicheldrüse produzierte Hormon Insulin
wird durch Injektionen ersetzt. Was die Behandlung von Schlafstörungen
betrifft sind das aber heute noch Zukunftsvisionen, denn die Isolierung
der vermuteten Schlafsubstanzen und die Klärung ihres Wirkungsmechanismus
sind noch nicht weit genug fortgeschritten, um sie als Medikamente anzuwenden.
Wir wollen uns zum Schluß nochmals die verschiedenen
»Forschungsphilosophien« vergegenwärtigen, die hinter
den hier beschriebenen Arbeiten stehen. Piérons Konzept eines Hypnotoxins
war wegleitend für die Untersuchungen, die zur Entdeckung von Faktor
S, SPS und DSIP geführt haben. Alle diese Arbeiten gingen von der
Annahme aus, daß das Schlafbedürfnis ein chemisches Korrelat
besitzt. Experimentell wurde der erhöhte »Schlafdruck«
durch Schlafentzug oder - vielleicht etwas weniger spezifisch - durch elektrische
Hirnreizung erzeugt. Bei diesem methodischen Ansatz waren keinerlei Annahmen
oder Vorkenntnisse über die gesuchte Substanz notwendig. Ihre Identifikation
war das Ergebnis einer sukzessiven Aufspaltung und Reinigung des Ausgangsmaterials.
Dieses Forschungskonzept das man als agnostisch bezeichnen könnte,
steht im Gegensatz zu jenem anderen, das von neurobiologischen Vorkenntnissen
ausgeht. Die bereits besprochene Monoamintheorie (Kapitel 8) ist ein gutes
Beispiel. Hier wurde aufgrund anatomischer, physiologischer und pharmakologischer
Befunde einem bereits bekannten Transmittor-System (z. B. dem Serotonin-System)
eine zentrale Rolle bei der Schlafregulation zugeschrieben. Wie indessen
die letzten zwei Jahrzehnte gezeigt haben, muß ein solcher Erklärungsversuch
in Hinblick auf die sich ständig erweiternden Erkenntnisse der Neurobiologie
unaufhörlich an neue Befunde angepaßt werden und kann dadurch
leicht an Überzeugungskraft einbüßen.
Ein weiterer Forschungsansatz bestand darin, bereits
bekannte körpereigene Substanzen nach dem Versuch-Irrtum-Verfahren
(wie z. B. bei VIP) oder auch nur aufgrund einer Zufallsbeobachtung (z.B.
beim Prostaglandin D2) auf ihre schlafinduzierende Wirkung hin zu testen.
Falls sich in solchen Experimenten ein positiver Befund ergibt, müssen
im nachhinein durch physiologische Untersuchungen Erklärungen gesucht
werden. Dieses Verfahren erinnert an die Entdeckung der Schlafmittel, die
ebenfalls zum großen Teil auf der Versuch-Irrtum-Methode oder auf
Zufallsbefunden basierten. Welcher Weg auch beschritten wird, um zu neuen
Wirksubstanzen zu gelangen, immer ist die Bestätigung der spezifischen
Wirkung ausschlaggebend, denn letzten Endes gibt es kein überzeugenderes
Argument als den Erfolg.
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