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Das Geheimnis des Schlafs von A. Borbély
- Kapitel 10
Buchausgabe © 1984 Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart
(vergriffen)
Ausgabe für das Internet, 1998, A. Borbély, Universität
Zürich.
Schlafentzug
Es ist Sache der Ärzte zu urteilen,
ob der Schlaf so notwendig ist,
daß unser Leben davon abhängt.
Wir erfahren allerdings,
daß man den König Perseus von Mazedonien
als Gefangenen in Rom sterben ließ,
indem man ihn am Schlafen hinderte.
Plinius jedoch nennt gar manche Beispiele solcher,
die lange ohne Schlaf gelebt haben.
Michel de Montaigne
Das Thema dieses Kapitels ist für die Grundlagenforschung
sowie für die angewandte Forschung von Bedeutung und weist überdies
interessante kulturgeschichtliche Aspekte auf. Für den Wissenschaftler
gewähren Schlafentzugsexperimente wichtige Einblicke in Regulationsmechanismen
und Funktionen des Schlafvorganges. Aber auch die praxisorientierte Forschung
kann aus solchen Versuchen wertvolle Hinweise gewinnen.
Betrachten wir vorerst einige Auswirkungen von Schlafentzug
auf das Berufsleben. Schlafentzug kann die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen,
was zum Beispiel für Teilnehmer im Straßenverkehr oder für
Industriearbeiter verheerende Folgen haben kann. Bei Schichtarbeitern,
die zu ungewohnten Zeiten schlafen müssen, kann es leicht zu einem
chronischen Schlafmangel kommen. Die Auswirkungen von ungenügendem
Schlaf ist auch für das Militär von Interesse, da Soldaten gelegentlich
über längere Zeit hinweg mit wenig Schlaf auskommen müssen.
Das kann nicht nur die Ausführung von Aufgaben beeinträchtigen,
sondern auch die angemessene Beurteilung einer Lage erschweren, es kann
die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen einschränken und ganz
allgemein die Motivation reduzieren.
Schlafentzug wird zuweilen auch absichtlich herbeigeführt.
Die im Korea-Krieg in chinesische Gefangenschaft geratenen Piloten wurden
einer sogenannten Gehirnwäsche unterzogen, wobei Schlafentzug eine
der Methoden war, um ihren Widerstand zu brechen. Solche Praktiken sind
nicht neu. So berichtet der Zürcher Psychologe Hermann Huber-Weidmann
über das sogenannte »Tormentum Vigiliae« (Marter des Wachseins),
das schon bei den Römern angewandt wurde. Die im Mittelalter verbreitete
»Tortura Insomniae« (Schlafentzugsmarter) sollte nicht nur
Geständnisse erzwingen, sondern auch Dämonen austreiben. Im 18.
Jahrhundert verurteilte der Lutheraner Christian Thomasius in seiner Schrift
»Vom Recht des Schlafens und Träumens« diese Praktiken.
Es mutet darum etwas paradox an, daß der als Foltermethode mißbrauchte
Schlafentzug vor ungefähr zehn Jahren in der Medizin Einzug hielt:
Er wird bei der Behandlung depressiver Patienten angewendet. Wir werden
auf diese neue Therapieform in anderem Zusammenhang zurückkommen.
Den Schlaf zu bezwingen wurde in den verschiedensten
Kulturen als eine erstrebenswerte, obwohl sehr schwierige Aufgabe betrachtet.
Der Religionswissenschaftler Mircea Eliade berichtet von australischen
Stämmen, bei denen junge Männer während den Initiationsriten
drei Nächte lang nicht schlafen durften. Auch der mesopotamische Held
Gilgamesch soll auf seiner Suche nach Unsterblichkeit die Auflage erhalten
haben, während sechs Tagen und sechs Nächten ohne Schlaf auszukommen
Da der Schlaf ihn trotzdem vorzeitig übermannte, mußte er bei
den Sterblichen bleiben. In seinem Buch »Die Vision« erwähnt
Ernst Benz verschiedene Beispiele asketischen Wachens, das die Bereitschaft
zu übersinnlichen Erfahrungen fördern soll. Als Beispiel nennt
er die ganze Nächte dauernden Gottesdienste der altchristlichen Mönche,
die sogenannten »Pannichiden«. Auch die ostkirchlichen Horen-Gottesdienste
lassen keinen ununterbrochenen Schlaf von mehr als drei bis vier Stunden
zu, da der Nachtgottesdienst nach Mitternacht endet, der Morgengottesdienst
aber bereits um vier Uhr beginnt.
Der Kampf gegen den Schlaf wurde von großen
Asketen hoch gepriesen, da die im Schlaf verbrachte Zeit als »verlorene
Zeit« galt. Um ihr Ziel besser zu erreichen, benützten sie auch
Steine anstatt Kopfkissen. So soll ein gewisser Petrus von Alcantara vierzig
Jahre lang täglich nie mehr als anderthalb Stunden, sitzend, das Haupt
an einen Pfahl gelehnt, geschlafen haben. Noch am Ende des 18. Jahrhunderts
preist der Dichter Novalis die Schlaflosigkeit, wenn er schreibt: »Je
weniger Schlaf man braucht - desto vollkommener ist man«. [44]
Experimenteller Schlafentzug: Erste Versuche
Im Jahre 1896 berichteten G. Patrick und J. Gilbert,
im psychologischen Laboratorium der Universität Iowa in den USA tätig,
über die Wirkung eines neunzig Stunden lang dauernden Schlafentzuges
bei drei gesunden, jungen Männern. Dieser ersten wissenschaftlichen
Schlafentzugsstudie sollten noch etliche weitere folgen. Eine der Versuchspersonen
war ein achtundzwanzigjähriger Assistenzprofessor der Universität.
Während der neunzig-stündigen Wachzeit ging er tagsüber,
soweit als möglich, seiner gewohnten Tätigkeit nach und verbrachte
die Nächte anfangs mit Lesen und Spielen, in späteren Phasen
des Experiments mit aktiven Betätigungen (Spazierengehen usw.). Während
des gesamten Versuchs wurden in periodischen Abständen Tests durchgeführt,
um die Leistungsfähigkeit zu prüfen und um verschiedene physiologische
Meßgrößen zu ermitteln. Die Autoren dieser Studie beschreiben,
daß die erste Nacht relativ problemlos ablief, die zweite jedoch
von einem starken Schlafbedürfnis geprägt war. Die Zeit um die
Morgendämmerung war die schwierigste. In der zweiten Hälfte des
Versuches konnte sich dann der Versuchsteilnehmer nicht mehr unbeschäftigt
hinsetzen, da er trotz großer Willensanstrengung sogleich einschlief.
Von der zweiten Nacht an traten auch Wahrnehmungsstörungen auf. So
beklagte sich die Versuchsperson, daß eine Schicht klebriger und
wirbelnder Partikel angeblich den Fußboden bedeckten und ihn am Gehen
hinderten. In noch späteren Phasen gab sie an, daß farbige Teilchen
die Luft erfüllten. Diese Sinnestäuschungen waren bereits nach
der ersten, zehneinhalb Stunden dauernden Schlafperiode vollständig
verschwunden. Die zwei anderen Versuchspersonen in dieser Studie überstanden
die Schlafentzugsperiode zwar ohne Wahrnehmungsstörungen, hatten aber
ebenfalls große Mühe, wachzubleiben. Auch sie fühlten sich
nach dem ersten Erholungsschlaf völlig ausgeruht.
Der Weltrekord
In drei Versuchsserien, die alle in den sechziger
Jahren durchgeführt wurden, blieben Versuchspersonen unter kontrollierten
experimentellen Bedingungen sieben bis neun Tage lang wach. Im Jahre 1965
beschloß Randy Gardner, ein siebzehnjähriger kalifornischer
College-Student, einen neuen Weltrekord aufzustellen. Den größten
Teil des Versuchs verbrachte er in Gesellschaft zweier Freunde, die ihn,
wenn auch mit etlichen Schwierigkeiten, einige Tage wach hielten. In den
letzten neunzig Stunden des Experiments übernahmen der Schlafforscher
William Dement und seine Mitarbeiter die Aufsicht. Obwohl sich auch in
diesem Versuch Auswirkungen des Schlafmangels zeigten, waren sie doch erstaunlich
gering ausgeprägt. Nach vier bis fünf Tagen ohne Schlaf wurde
der junge Mann reizbar und mißtrauisch. Er begann über Wachträume
zu berichten und zeigte Gedächtnisstörungen. Während eines
nächtlichen Spazierganges hatte er eindeutige Wahrnehmungsstörungen.
Dement beschreibt, wie es besonders nachts außerordentlich schwer
war, den Jungen mit seinen schmerzenden, schweren Augenlidern am Schlafen
zu hindern und seine Motivation für den Versuch aufrecht zu erhalten.
Tagsüber fiel ihm das Wachbleiben jeweils leichter. Gegen Ende des
Versuches begannen die amerikanische Presse und das Fernsehen das Experiment
mitzuverfolgen, was natürlich Randys Motivation erhöhte. Nach
elf Tagen war es soweit. Der Junge gab eine letzte Pressekonferenz, die
er bravourös meisterte. Auf die Frage, wie er diese Rekordwachzeit
zustande gebracht habe, gab er leichthin zur Antwort: »Es war einfach
der Triumph des Geistes über die Materie.« Nach genau 264 Stunden
und 12 Minuten ohne Schlaf versank er im Schlaflaboratorium des kalifornischen
San Diego Naval Hospitals in einen Schlaf, der 14 Stunden und 40 Minuten
dauerte. Nach dem Erwachen war er praktisch erholt.
Befinden und Leistungsfähigkeit während
des Schlafentzugs
Der beschriebene Rekordversuch beweist laut Dement,
daß es möglich ist, eine lange Schlafentzugsperiode ohne größere
psychische Funktionseinbußen zu überstehen. Er betont allerdings,
daß die ausgezeichnete körperliche Verfassung des jugendlichen
Probanden, seine starke Motivation sowie die Unterstützung durch die
Versuchsleiter und Medien für den Erfolg sehr wichtig waren. Im Gegensatz
zu diesem Experiment waren in zahlreichen anderen Schlafentzugsversuchen
viel ausgeprägtere Störungen zu beobachten. Die Befunde wurden
von Hermann Huber Weidmann im Buch »Schlaf, Schlafstörungen,
Schlafentzug«[45] zusammengefaßt.
Verfolgen wir nun einen »typischen«
Versuch. Die erste Nacht stellt gewöhnlich kein Problem dar. Wenn
das Experiment, wie dies oft der Fall ist, in einer Gruppe durchgeführt
wird, herrscht in der ersten Phase eine aufgeräumte, gute Stimmung.
Der Versuch wird als sportlicher Wettkampf betrachtet, den es zu gewinnen
gilt. Die Versuchsteilnehmer zeigen in dieser Anfangsphase ein spontanes,
initiatives Verhalten. Die positive Stimmung hält auch am folgenden
Tage noch an. In der zweiten Nacht wird es bereits schwieriger, wach zu
bleiben. Besonders morgens zwischen drei und fünf Uhr kommt es zur
Krise: Das Schlafbedürfnis erscheint nun fast unüberwindlich.
Bei längerdauernden Testaufgaben schlafen die Versuchspersonen unweigerlich
ein. Doch bestreiten sie nach dem sofortigen Wecken durch den Versuchsleiter,
geschlafen zu haben. Am folgenden Tage wird deutlich, daß die Hochstimmung
verflogen ist. Die Teilnehmer am Versuch sind ernst, angespannt und führen
ihre Aufgaben ohne Begeisterung durch. Zunehmend gleichgültiger und
apathischer, reagieren sie unwirsch auf Störungen und kommen den Anforderungen
des Versuchsleiters zwar nach, zeigen aber keinerlei eigene Initiative.
Stimmungsschwankungen sind in dieser Phase oft zu beobachten, wobei eine
gereizte Verstimmtheit plötzlich in angeregte Geschäftigkeit
umschlagen kann. In der dritten Nacht ohne Schlaf können die Versuchspersonen
ohne Hilfe nicht mehr wachbleiben. Um sie am Einschlafen zu hindern, muß
sie der Versuchsleiter zu immer neuen Tätigkeiten anregen. Bewegungen,
Gymnastik und Spaziergänge sind oft das einzig wirksame Mittel. Auch
in den fortgeschrittenen Stadien des Schlafentzugs sind die frühen
Morgenstunden die schwierigsten. Ist diese kritische Zeit überstanden,
geht das Schlafbedürfnis wieder zurück. Sogenannte Mikro-Schlafperioden
treten von der dritten Nacht an häufig in Erscheinung. Der Versuchsteilnehmer
hält dabei in seiner Tätigkeit inne und starrt während ein
bis drei Sekunden (in späteren Stadien bis zu sechs Sekunden) ins
Leere. Das EEG zeigt während dieser kurzen Zeit Veränderungen,
die für den Schlaf typisch sind. Das Ende einer Mikro-Schlafperiode
ist vom Gefühl des Wieder-zu-sich-Kommens begleitet. In diesem Stadium
treten oft visuelle Wahrnehmungsstörungen auf. Es ist, als ob die
Grenzen zwischen Wachen und Schlafen unscharf geworden wären, so daß
Halluzinationen, wie sie im Einschlafstadium auch normalerweise auftreten
können, nun in den Wachzustand übergreifen. Dabei kommt es sowohl
zu Illusionen (veränderte Wahrnehmung existierender Objekte) als auch
zu eigentlichen Halluzinationen (Wahrnehmung nicht existierender Objekte).
Die Oberfläche von Gegenständen erscheint unstet, der Fußboden
von Spinnweben bedeckt, Gesichter tauchen auf und verschwinden wieder.
Die Sinnestäuschungen können auch das Gehör erfassen: Stimmen
scheinen aus dem Geräusch eines laufenden Wasserhahns hervorzutreten
und über die Versuchsperson zu sprechen. Eine wiederholt beschriebene,
das Körpergefühl betreffende Sinnestäuschung ist das Hut-Phänomen:
Die Versuchsperson spürt in Stirnhöhe einen ringförmigen
Druck um den Kopf, als ob sie einen Hut trüge.
In Schlafentzugsexperimenten, die länger als
vier Tage dauern, kann es neben Wahrnehmungsstörungen auch zu Wahnideen
kommen. Die Versuchspersonen werden dabei zunehmend mißtrauischer
und vermuten, daß hinter ihrem Rücken Dinge vorgehen, die man
ihnen verschweigt. So glaubte beispielsweise eine Versuchsperson nach viertägiger
Wachzeit, ihr sei eine Droge in den Kaffee gemischt worden. In einem anderen
Versuch war ein Teilnehmer überzeugt, man trachte ihm nach dem Leben.
Er rief seine Frau an und bat sie, sofort die Polizei zu rufen. Schließlich
kann es auch zu schweren Depersonalisationserscheinungen kommen, in denen
die Versuchsperson ihrer eigenen Identität nicht mehr sicher ist und
nichts mehr mit der vertrauten Welt in Beziehung bringen kann. Bei solchen
schweren psychischen Störungen kann man von einer eigentlichen Schlafentzugspsychose
sprechen.
Es ist interessant, daß im Gegensatz zu den
ausgeprägten psychischen Veränderungen körperliche Symptome
nur wenig in Erscheinung treten. Brennen und Schmerzen der Augen und Lider
sowie Doppelsehen sind relativ früh zu beobachten. Gliederschmerzen,
feinschlägiges Zittern und Gefühlsstörungen in Armen und
Beinen werden zuweilen beschrieben. Trotz intensiver Untersuchungen konnten
indessen keine eindeutigen, durch Schlafmangel verursachten Stoffwechselveränderungen
nachgewiesen werden.
Aus naheliegenden Gründen galt das Hauptinteresse
vieler Untersuchungen der Leistungsfähigkeit, die mit verschiedenen
Tests gemessen wurde. Für die Leistungseinbuße bei längerdauernden
Schlafentzugsexperimenten waren reduzierte Motivation der Versuchsperson
sowie gehäuft auftretende Mikro-Schlaf-Episoden wichtige Ursachen.
Der Mikro-Schlaf beeinträchtigt besonders das Lösen von Aufgaben,
die längerdauernde Aufmerksamkeit erfordern. In einer vom amerikanischen
Schlafforscher Harold Williams und Mitarbeitern durchgeführten Untersuchung
mußten beispielsweise die Versuchspersonen, denen auf einem Bildschirm
während zehn Minuten ein Buchstabe pro Sekunde präsentiert wurde,
immer dann eine Taste drücken, wenn ein X vorkam. Die Häufigkeit
des Buchstabens X betrug etwa fünfundzwanzig Prozent aller Buchstaben.
Diese einfache Aufgabe konnte vor dem Versuch praktisch fehlerfrei gelöst
werden. Nach drei Tagen Schlafentzug wurde bei einem Viertel der gezeigten
X die Taste nicht mehr betätigt. Umgekehrt erfolgte aber oft ein Tastendruck
bei einem anderen Buchstaben. Mikro-Schlaf-Episoden waren zweifellos für
diese sich verschlechternde Leistung die Hauptursache.
Das Versuchsergebnis hat praktische Bedeutung, da
der »Sekundenschlaf« bei übermüdeten Autofahrern
ein bekanntes und gefürchtetes Phänomen ist. Im Hinblick auf
solche ausgeprägten Funktionsstörungen bei länger dauernden
Anstrengungen ist es erstaunlich, wie gut schlafdeprivierte Personen in
Testsituationen abschneiden, die nur während kurzer Zeit die volle
Aufmerksamkeit erfordern. Auch ist es immer wieder überraschend, daß
eine einzige Schlafperiode ausreicht, um psychische Funktionsstörungen
zum Verschwinden zu bringen. Nur in vereinzelten Fällen wurde über
eine längere Dauer der Störungen berichtet. Sehr selten blieben
psychotische Veränderungen noch nach dem Abschluß des Experiments
bestehen. In diesen Fällen handelte es sich wahrscheinlich um Personen
mit einer vorher schon bestehenden Veranlagung, bei denen der Streß
des Schlafentzugs als auslösender Faktor wirkte.
Kann man sich das Schlafen abgewöhnen?
Wie einst die mittelalterlichen Asketen betrachten
auch heute viele Leute den Schlaf als »verlorene Zeit«. Sie
bedauern, daß der Tag nicht mehr als vierundzwanzig Stunden hat und
sie nicht Zeit haben, all das zu tun, was sie tun müßten oder
gerne möchten. Wäre es nicht herrlich, wenn jenes »untätige«
Drittel des Lebens für aktive Tätigkeiten genutzt werden könnte!
Wie wir schon früher gesehen haben, gibt es Kurzschläfer, die
einem solchen Ideal nahekommen. Was ist indessen mit der großen Mehrheit
der Normalschläfer? Könnten auch sie ihren Schlaf reduzieren?
Die kalifornische Arbeitsgruppe von Laverne Johnson
ist vor einigen Jahren dieser Frage nachgegangen. Am Versuch nahmen vier
junge Paare teil, von denen drei in der Regel acht Stunden pro Nacht schliefen,
während die Schlafzeit des vierten Paares nur sechseinhalb Stunden
betrug. Die Versuchsteilnehmer hatten die Aufgabe, ihren Schlaf allmählich
auf fünfeinhalb Stunden oder weniger zu reduzieren, indem sie alle
zwei bis drei Wochen eine halbe Stunde später zu Bett gingen. Nachdem
sie auf diese Weise ihre kürzeste Schlafzeit erreicht hatten, behielten
sie diese einen Monat lang bei und schliefen in den folgenden zwei Monaten
wieder dreißig Minuten länger. Die drei Paare mit der Normalschlafdauer
von acht Stunden vermochten ihren Schlaf auf fünfeinhalb, fünf
und viereinhalb Stunden zu reduzieren. Das Paar mit der Normalschlafdauer
von sechseinhalb Stunden reduzierte den Schlaf auf fünf Stunden. In
den letzten sechs Monaten dieses Experiments war es den Versuchsteilnehmern
freigestellt, ihre Schlafdauer nach eigenem Gutdünken festzulegen.
Interessanterweise behielten alle Normalschläfer eine verkürzte
Schlafdauer bei, die mit fünfeinhalb bis siebendreizehntel Stunden
(Mittelwert 6,4 Stunden) deutlich unter dem Ausgangswert lag. Nur das Kurzschläferpaar
zog es vor, wieder zu den gewohnten sechseinhalb Stunden zurückzukehren.
Diese Untersuchung zeigt, daß für Normalschläfer eine absichtliche
Schlafreduktion um ein bis zwei Stunden während längerer Zeit
möglich ist. Eine ähnliche, früher durchgeführte Untersuchung
der gleichen Arbeitsgruppe hatte vergleichbare Resultate ergeben.
Wie fühlten sich die Versuchsteilnehmer in
diesem Versuch? Die Normalschläfer hatten bei einer Reduktion der
Schlafdauer unter sechseinhalb Stunden bereits Mühe, morgens aufzustehen,
und klagten über Müdigkeit. Mit fortschreitender Schlafreduktion
verschliefen sie morgens häufiger und hatten auch ein größeres
Bedürfnis, tagsüber zu schlafen. Eine übermäßige
Müdigkeit war schließlich der ausschlaggebende Faktor, daß
die Versuchsteilnehmer ihre Schlafzeit nicht noch weiter reduzierten. Die
mit verschiedenen Tests gemessene Leistungsfähigkeit wurde durch den
verkürzten Schlaf nicht signifikant beeinträchtigt.
In einer neueren Studie der amerikanischen Schlafforscher
Mary Carskadon und William Dement wurde deutlich, daß eine Verkürzung
der Schlafzeit von den gewohnten sieben bis neun Stunden auf fünf
Stunden die Schlafbereitschaft tagsüber erhöhte. Diese Auswirkung
des zunehmenden Schlafmangels war allerdings bereits nach der ersten zehnstündigen
Erholungsschlafperiode vollständig verschwunden.
Sind wir alle chronisch schlafdepriviert*?
* Schlafdeprivation = Schlafentzug
Diese Frage bildet den provokativen Titel einer
von den amerikanischen Schlafforschern Wilse Webb und Harman Agnew im Jahre
1975 veröffentlichten Arbeit. Wie bereits erwähnt, würden
die meisten Personen gern etwa eine Stunde länger als üblicherweise
schlafen. Aufzeichnungen des Ruhe- Aktivitäts-Verhaltens bestätigen
denn auch, daß viele Menschen an Wochenenden ihren Schlaf verlängern.
Ist dieser zusätzliche morgendliche Schlaf an Samstagen und Sonntagen
jener fehlende Teil, der für den »Idealschlaf« nötig
ist? Ist er Ausdruck eines Nachholbedarfs, der aus einem Schlafmangel während
der Woche entstanden ist? Oder stellt er etwa bloß einen »Luxusschlaf«
dar, der keinerlei praktische Bedeutung hat und auf den man ebenso gut
verzichten könnte?
Obwohl die vorliegenden Befunde keine eindeutige
Antwort erlauben, gibt eine kürzlich von Carskadon und Dement veröffentlichte
Arbeit gewisse Hinweise. Diese Schlafforscher interessieren sich schon
seit Jahren für Veränderungen der Schlafbereitschaft tagsüber.
Als Meßmethode dient ihnen der sogenannte multiple Schlaflatenztest,
der in Zwei-Stunden-Intervallen von morgens bis abends durchgeführt
wird. Die Versuchspersonen legen sich dabei in einem verdunkelten Raum
nieder und versuchen einzuschlafen. Sobald aufgrund der EEG- und EMG-Aufzeichnung
die ersten
Schlafzeichen ersichtlich sind, werden sie geweckt.
Der Test dauert maximal zwanzig Minuten und wird abgebrochen, wenn die
Versuchspersonen zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingeschlafen sind. Die
bis zum Einschlafen benötigte Zeit wird als Meßgröße
für die Schlafbereitschaft verwendet. Wie Abbildung 10.1 zeigt, verkürzt
sich die bis zum Einschlafen benötigte Zeit (Schlaflatenz) nach einer
schlaflosen Nacht drastisch. Interessant ist aber auch, daß die Schlaflatenz
zunimmt (d. h. die Schlafbereitschaft zurückgeht), wenn man in der
vorangehenden Nacht drei bis vier Stunden länger als gewöhnlich
geschlafen hat. Diese Ergebnisse unterstützen die Annahme, daß
die normale Schlafdauer unter dem Optimum liegt. Allerdings muß einschränkend
festgestellt werden, daß der erwähnte Versuch an Studenten durchgeführt
worden ist, die nicht unbedingt für die Gesamtbevölkerung repräsentativ
sind.
In diesem Zusammenhang müssen wir noch auf
einen weiteren praktischen Aspekt zu sprechen kommen: Übermäßiger
Schlaf bewirkt oft Schlafschwierigkeiten am folgenden Abend, eine Feststellung,
die vielen »Sonntagsschläfern« aus eigener Erfahrung wohlbekannt
sein dürfte. Da es den meisten Menschen schwerfällt, abends früher
als gewöhnlich einzuschlafen, andererseits aber ihre Aufstehzeit während
der Wochentage durch den Arbeitsbeginn bestimmt ist, können sie ihre
optimale Schlafdauer nicht beibehalten. Sie müssen deshalb mit einem
gewissen permanenten Schlafdefizit leben, das es ihnen allerdings möglicherweise
leichter macht, trotz Streß im Alltag abends einzuschlafen. Sowohl
die zu kurze Schlafzeit während der Woche als auch die langen »Erholungsnächte«
am Wochenende könnten so eine sinnvolle Erklärung finden.
Abb. 10.1 : Dauer bis zum Einschlafen. Wiederholte
Einschlafversuche tagsüber nach langem Schlaf, Normalschlaf und schlafloser
Nacht. Die Versuchsperson legt sich zwischen 9.30 und 19.30 Uhr alle 2
Stunden nieder und versucht einzuschlafen. Schläft sie ein, wird sie
sofort geweckt. Die Einschlafzeit wird als Meßgröße für
die Schlafbereitschaft bestimmt. Nach einem langen Schlaf in der vorangegangenen
Nacht ist die Einschlafzeit verlängert, nach einer schlaflosen Nacht
stark verkürzt. Nicht die Meßpunkte sondern die dargestellten
Punkte sind Mittelwerte. (Aus einer Untersuchung von Carskadon und Dement,
1981.) (28k JPG file)
Schlafentzug und Schlafstadien
Wie bereits erwähnt, bewirkt auch tagelanges
Wachbleiben keinen tagelangen Erholungsschlaf. Obwohl Randy Gardner in
seinem elftägigen Rekordversuch fast neunzig Stunden Schlaf verloren
hatte, war der Erholungsschlaf lediglich um sieben Stunden länger
als seine übliche Schlafdauer. Es stellt sich daher die Frage, ob
die Schlafintensität nach längerer Wachzeit erhöht ist.
Geben die Schlafstadienverteilung oder das EEG einen Hinweis darauf, auf
welche Weise der erstaunliche Erholungsvorgang in der ersten Schlafperiode
zustande kommt?
Aus den Schlafentzugsexperimenten, bei denen in
den Erholungsnächten der Schlaf im Schlaflabor aufgezeichnet wurde,
geht hervor, daß primär der Anteil des Tiefschlafs ansteigt.
Beispielsweise erhöht sich nach einer Wachzeit von zweihundert Stunden
der Tiefschlafanteil in den ersten neun Stunden des Erholungsschlafs auf
mehr als das Doppelte einer gewöhnlichen Nacht. Daß der Tiefschlaf
ausgesprochen empfindlich auf eine Verlängerung der Wachzeit reagiert,
zeigen auch Versuche, in denen bereits eine einzige Nacht ohne Schlaf zu
einem Anstieg führte. Der Schluß liegt nahe, daß die Tiefschlaf-Vermehrung
ein Ausdruck einer gesteigerten »Schlafintensität« sein
könnte.
Ganz anders verhält es sich mit dem REM-Schlaf.
Zwar ist sein Anteil nach längerem Schlafentzug ebenfalls erhöht
(z. B. um 57 Prozent in den ersten neun Stunden Erholungsschlaf nach zweihundertfünf
Stunden Wachzeit). Doch bewirkt ein kürzerer Schlafentzug (bis zu
vier Tagen) in der Regel keine Erhöhung des REM-Schlafes in der ersten
Erholungsnacht. Eine REM- Schlaf-Zunahme kann in der zweiten Erholungsnacht
verspätet auftreten.
Schlafentzugsversuche weisen also auf eine unterschiedliche
Regulation von Tiefschlaf und REM- Schlaf hin. Während der Tiefschlaf
sofort und schon nach geringem Schlafentzug erhöht ist, kommt es erst
nach längerer Wachzeit zu einer Vermehrung des REM-Schlaf-Anteils.
Auch Experimente, in welchen der Schlaf nur verkürzt, aber nicht vollständig
entzogen wurde, bezeugen die hohe Priorität des Tiefschlafs. Betrachten
wir beispielsweise den schon besprochenen Versuch, in welchem vier Paare
ihren Schlaf allmählich um anderthalb bis dreieinhalb Stunden reduzierten.
Während der verkürzten Schlafzeit nahm die Dauer des Tiefschlafstadiums
4 zu, während die im REM-Schlaf verbrachte Zeit abnahm. Die Verkürzung
des Schlafes ging vor allem auf Kosten von Stadium 2. Auch andere Versuche
bestätigen, daß bei einer Schlafverkürzung die Tiefschlafzeit
beibehalten oder sogar erhöht wird, während die REM-Schlaf-Zeit
abnimmt.
Wir haben bereits in einem früheren Kapitel
(Kapitel 2) gesehen, daß die Stadieneinteilung des Non-REM-Schlafes
auf willkürlich festgelegten Kriterien beruht und daß die EEG-Spektralanalyse
die kontinuierlichen Veränderungen im Schlaf viel getreuer wiedergibt.
Da der Tiefschlaf durch seinen hohen Anteil an langsamen Wellen im Delta-Bereich
(1-4 Hz) gekennzeichnet ist, haben wir die Auswirkungen eines kurzdauernden
Schlafentzugs auf die langsamen EEG-Wellen untersucht. Abbildung 10.2 zeigt
Resultate, die bei Versuchen an Menschen und an Ratten gewonnen wurden.
Es ist deutlich, daß in beiden Fällen der Schlafentzug zu einer
starken Zunahme der langsamen EEG-Wellen führt und daß die den
Tiefschlaf-Phasen entsprechenden, periodisch auftretenden Gipfel höher
und breiter sind als in der Kontrollperiode. Der Schlafentzug hat also
bei Mensch und Tier deutlich sichtbare Auswirkungen auf die langsamwellige
Aktivität des Schlaf-EEG. Wir werden im letzten Kapitel nochmals in
anderem Zusammenhang auf diesen wichtigen Befund zu sprechen kommen.
Abb. 10.2: Schlafentzug erhöht den Anteil an
langsamen Wellen im EEG bei Mensch und Tier. Die Abbildung zeigt Spektralkurven
der langsamen Wellen (1-4 Hz) im Schlaf-EEG. Mensch: Nach 40,5 Stunden
Wachzeit (vgl. Abb. 2.6); Ratte: Nach 24 Stunden Wachzeit (vgl. Abb. 7.8).
(35k JPG file)
Selektiver Entzug von Schlafstadien
Vor kurzem unternahmen wir im Schlaflaboratorium
der Universität Zürich folgendes Experiment: Während drei
Tagen wurde bei einer Versuchsperson selektiv der REM-Schlaf entzogen.
Robert, ein Medizinstudent, der schon an früheren Versuchen teilgenommen
hatte, stellte sich für diesen Versuch zur Verfügung. Mit den
üblichen Elektroden an Kopf Gesicht und Kinn versehen, legte er sich
zur gewohnten Zeit schlafen. Anhand der EEG-Aufzeichnungen verfolgten wir
seinen Schlaf. Nach der ersten Tiefschlaf-Periode kündigte sich der
REM-Schlaf an: Das EEG wurde flach, zeigte typische kleine, rasche Wellen
und die Muskelspannung verschwand. Sogleich gingen wir ins Nebenzimmer
und weckten Robert auf. Er mußte auf einer Skala angeben, ob er tief
oder oberflächlich geschlafen hatte. Nachdem er noch einige weitere
Fragen beantwortet hatte, durfte er weiterschlafen. Wie Abbildung 10.3
zeigt, traten mit fortschreitender Schlafdauer immer häufiger Ansätze
von REM- Schlaf auf. Betrachten wir die Aufzeichnungen der drei aufeinanderfolgenden
Versuchsnächte, so sehen wir, daß die Zahl der erforderlichen
REM-Schlaf-Unterbrechungen von Nacht zu Nacht zunahm. Offensichtlich bewirkte
der Entzug dieses Schlafstadiums einen zunehmenden REM-Schlaf- »Druck«.
Interessanterweise war dieser in der Nacht nicht andauernd vorhanden, sondern
trat nur periodisch in Erscheinung. Zwischen Perioden, die häufige
Weckungen erforderten, verbrachte Robert jeweils etwa eine Stunde ungestört
im Non-REM-Schlaf. Gegen Ende der dritten Nacht wurden die REM-Schlaf-Ansätze
so häufig, daß er wenige Sekunden nach einer Weckung sogleich
wieder in den REM-Schlaf verfiel, so daß sein Schlaf in sehr kurzen
Abständen unterbrochen werden mußte.
REM-Schlaf-Entzugsexperimente dieser Art wurden
erstmals von William Dement im Jahre 1960 durchgeführt. Da damals,
wenige Jahre nach Entdeckung des REM-Schlafes, die Meinung vorherrschte,
Träume kämen ausschließlich in diesem Stadium vor, wurde
REM-Schlaf-Entzug mit Traum-Entzug gleichgesetzt. Es war ein unglücklicher
Zufall, daß Dement ausgerechnet in seinem ersten Versuch zunehmende
Reizbarkeit und Konzentrationsschwierigkeit der Versuchspersonen glaubte
feststellen zu können. Der Schluß lag nahe, daß das Träumen
für das psychische Gleichgewicht unerläßlich sei. Dement
selbst widerrief diese Schlußfolgerung aufgrund eigener, gründlicherer
Untersuchungen, und auch die Befunde anderer Forschergruppen zeigten, daß
der Entzug des REM-Schlafes keinerlei psychische Störungen verursacht.
Trotzdem ist bis heute die Irrmeinung, daß REM-Schlaf-Entzug besonders
verheerende Auswirkungen habe, nicht aus der Welt zu schaffen.
Verhindert man während mehrerer Tage den REM-Schlaf,
kommt es in den Erholungsnächten oft zu einer Zunahme des REM-Schlaf-Anteils,
als ob das Defizit dieses Schlafstadiums wettgemacht werden müßte.
Dieser sogenannte »REM-Schlaf-Rebound« tritt jedoch nicht in
allen Fällen deutlich in Erscheinung und kann auch - wie zum Beispiel
aus unserem eigenen Experiment mit Robert hervorgeht - ganz fehlen. Es
wurde vermutet, daß diese Unterschiede auf Faktoren zurückzuführen
sind, die mit der Persönlichkeit der Versuchsperson in Zusammenhang
stehen.
Wir haben in diesem Kapitel gesehen, daß bei
Mensch und Tier die Wirkung von totalem Schlafentzug auf die langsamen
EEG-Wellen sehr ähnlich ist. Dies trifft auch für den REM-Schlaf
zu. So haben Untersuchungen bei verschiedenen Tierarten gezeigt, daß
sowohl totaler Schlafentzug als auch selektiver REM-Schlaf-Entzug zu einem
REM-Schlaf-Rebound führen. Das weist darauf hin, daß nicht nur
die Schlafstadien selbst, sondern auch ihre Regulationsmechanismen für
alle Säugetiere grundsätzlich gleich sind.
Bei der Besprechung des selektiven Entzugs eines
Schlafstadiums haben wir uns bisher auf den REM-Schlaf konzentriert. Können
auch andere Schlafstadien entzogen werden? Eine selektive Deprivation des
gesamten Non-REM-Schlafes ist nicht durchführbar, da dieses Stadium
75-80 Prozent des Gesamtschlafs ausmacht und zudem vor dem REM-Schlaf auftritt.
Non-REM-Schlaf- Entzug wäre deshalb praktisch gleichbedeutend mit
totalem Schlafentzug. Indessen ist es möglich, Versuchspersonen selektiv
am Tiefschlaf zu hindern. In Experimenten, die erstmals in den frühen
sechziger Jahren durchgeführt wurden, störte man die Versuchspersonen
bei jedem Ansatz zum Stadium 4. Diese Störung weckte die Versuchsteilnehmer
nicht auf, bewirkte aber den Übergang in ein weniger tiefes Non-REM-Schlaf-Stadium.
Ähnlich, wie wir es für den REM-Schlaf-Entzug gesehen haben,
konnte auf diese Weise das Auftreten des Tiefschlafs praktisch verhindert
werden. Auch hier wurde beobachtet, daß im Laufe des Versuchs die
Versuchspersonen immer wieder gestört werden mußten. Im anschließenden
Erholungsschlaf kam es zu einem Stadium-4-Rebound. Die Interpretation dieser
Befunde ist allerdings deshalb nicht ganz einfach, weil der Tiefschlaf
lediglich aufgrund seines hohen Anteils an langsamen EEG-Wellen von den
anderen Non-REM-Schlaf-Stadien abgegrenzt werden kann (siehe Kapitel 2).
Eine Tiefschlaf-Deprivation kann daher ein vermehrtes Auftreten langsamer
EEG-Wellen in anderen Schlafstadien bewirken, wie wir in eigenen Versuchen
festgestellt haben. Wegen solcher Kompensationsmechanismen kann ein selektiver
Tiefschlaf-Entzug, im Unterschied zum REM-Schlaf-Entzug, nur teilweise
durchgeführt werden.
Abb. 10.3: Weckungen zum REM-Schlaf-Entzug während
drei Nächten. Der »REM-Schlafdruck« nimmt während
des REM-Schlaf-Entzuges zu. Eine Versuchsperson wurde während 3 Nächten
bei jedem Beginn einer REM-Schlaf-Episode geweckt und auf diese Weise am
REM-Schlaf gehindert. Die Striche geben die Weckungen an. Ihre Anzahl nimmt
von Nacht zu Nacht zu. (Aus einem gemeinsam mit T. Niggli durchgeführten
Versuch.) (39k JPG file)
Schlafentzug als Therapie bei Depressionen
Die endogene Depression gehört, zusammen mit
der Schizophrenie, zu den wichtigsten schweren psychischen Erkrankungen.
Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Schuldgefühle beherrschen häufig
das Krankheitsbild. In schweren Fällen sind die Patienten nicht mehr
willens oder fähig, etwas aus eigenem Antrieb zu unternehmen, alles
scheint ihnen sinnlos und unüberwindlich schwierig. Freiwillig aus
dem Leben zu scheiden erscheint manchen als der letzte Ausweg aus diesem
qualvollen Zustand. Gestörter Schlaf ist ein häufiges Begleitsymptom
der depressiven Erkrankung. Schon zu Beginn der Krankheit haben die Patienten
Schwierigkeiten beim Einschlafen, zeigen einen unterbrochenen und oberflächlichen
Schlaf und erwachen vorzeitig in den frühen Morgenstunden. Es ist
daher erstaunlich, daß mit dem vollständigen Entzug dieses so
gestörten Schlafes in vielen Fällen deutliche Besserungen des
Krankheitsbildes erzielt werden können. Seit die günstige Wirkung
von Schlafentzug Ende der sechziger Jahre erstmals beschrieben worden war,
haben verschiedene Arbeitsgruppen diese Behandlungsart systematisch untersucht.
Wie geht die Schlafentzug-Therapie vor sich? Der
Patient wird allein oder in einer Gruppe während der Nacht vom Pflegepersonal
der Psychiatrischen Klinik wachgehalten. Je nach seinem Zustand verbringt
er die Nachtstunden mit Spielen, Lesen, Handarbeiten oder Spazierengehen.
Falls er zu jenen glücklichen 40 Prozent gehört, die auf die
Therapie ansprechen, bessert sich sein Zustand schon in den frühen
Morgenstunden. Er wird mitteilsamer und aktiver, seine Stimmung weniger
depressiv. Diese Verminderung der Depression ist in jenen Fällen besonders
eindrucksvoll, in denen die Krankheit wochenlang ohne Besserung angedauert
hat. Tagsüber hält die Stimmungsaufhellung an und kann sich sogar
noch etwas verstärken. Leider bewirkt gewöhnlich bereits die
folgende Schlafperiode einen Rückfall, und nur in seltenen Fällen
wird eine länger dauernde Besserung beobachtet. Dieser auf eine kurze
Zeitdauer begrenzte Therapieerfolg schränkt natürlich die praktische
Anwendung dieser Behandlung stark ein. Auch die erhebliche Belastung des
Pflegepersonals fällt negativ ins Gewicht.
Gegenwärtig untersuchen verschiedene klinische
Forschergruppen, ob durch eine Modifikation der Behandlungsart eine längerdauernde
Wirkung erzielt werden könnte, und auch, ob es Mittel und Wege gibt,
um den therapeutischen Aufwand zu reduzieren. Erste Ergebnisse weisen darauf
hin, daß durch eine Kombination von Schlafentzug und antidepressiv
wirkenden Medikamenten sich eine längeranhaltende Besserung erzielen
läßt. Auch gibt es Berichte, wonach bereits die Verkürzung
des Schlafs um einige Stunden wirksam ist. Für den Grundlagenforscher
ist es ein faszinierendes, aber immer noch ungelöstes Rätsel,
weshalb diese einfache Veränderung des Schlaf-Wach-Zyklus eine ausgesprochen
antidepressive Wirkung zeigt. Die Lösung des Problems könnte
uns dem Verständnis der biologischen Grundlagen der Depression näher
bringen. Im Schlußkapitel werden wir eine Hypothese besprechen, die
auf einem Modell der Schlafregulation beruht und einen ersten Ansatzpunkt
für eine Erklärung liefern könnte.
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