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Das Geheimnis des Schlafs von A. Borbély
- Kapitel 11
Buchausgabe © 1984 Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart
(vergriffen)
Ausgabe für das Internet, 1998, A. Borbély, Universität
Zürich.
Schlaf als biologischer
Rhythmus
Es glaubt nehmlich mancher, es sey völlig
einerley,
wenn man diese 7 Stunden schliefe,
ob des Tages oder des Nachts.
Man überläßt sich also Abends
so lange wie möglich
seiner Lust zum Studiren oder zum Vergnügen,
und glaubt es völlig beyzubringen,
wenn man die Stunden in den Vormittag hinein
schläft,
die man der Mitternacht nahm.
Aber ich muß jeden dem seine Gesundheit
lieb ist,
bitten, sich für diesen verführerischen
Irrthum zu hüten.
C. W. Hufeland, 1798
Die meisten Menschen in unseren Breiten gehen jahraus,
jahrein ungefähr zur selben Zeit zu Bett und stehen zur selben Zeit
auf. Nur an Wochenenden oder Feiertagen und im Urlaub kommt es zu gewissen
Abweichungen der Schlafzeit. Wie regelmäßig der Ruhe-Aktivitäts-Rhythmus
ist, sieht man eindrucksvoll anhand von Langzeitaufzeichnungen. Die Abbildung
11.1 zeigt die Aktivität eines berufstätigen Mannes, die
mit einem am Handgelenk getragenen Meßgerät länger als
ein Jahr aufgezeichnet wurde. Die Ruhezeit betrug ungefähr sechseinhalb
bis sieben Stunden und dauerte gewöhnlich von 0.30 bis 7.30 Uhr. Die
zwei deutlichen Verschiebungen des Ruhe-Aktivitäts- Rhythmus sind
auf Amerikareisen und die damit verbundene Zeitzonenverschiebung zurückzuführen.
Bettzeit und Aufstehzeit können wir nur selten
frei wählen, meistens sind sie bestimmt durch unser Leben in Familie
und Gesellschaft sowie durch Arbeit oder Schule. Es gibt viele Gründe,
warum wir in aller Regel in den Nachtstunden schlafen. Seit jeher zog sich
der Mensch zur Nachtzeit in seine Behausung zurück, denn seine Betätigungsmöglichkeiten
waren im Dunkeln eingeschränkt, die Risiken und Gefahren groß.
Die Stunden nach Sonnenuntergang gehörten denn auch dem Haus und der
Familie und dienten der Vorbereitung zur Nachtruhe. Mit der Einführung
des künstlichen Lichtes, das nicht nur Häuser, sondern ganze
Städte erhellt wurde es möglich, die Tagesaktivität weit
in die Abend- und Nachtstunden hinein zu verlängern. Diese neue »Errungenschaft«,
von Webb als »Edison-Effekt« bezeichnet, verlockt dazu, die
abendliche Freizeit auf Kosten der Schlafzeit auszudehnen. Fernsehprogramme
bringen in alle Stuben spannende Unterhaltung bis in die späten Nachtstunden
und machen so das frühe Zubettgehen für viele zu einem Akt der
Entsagung und des Verzichts. Die Versuchung liegt nahe, die Bettzeit den
äußeren Gegebenheiten anzupassen, einmal spät, dann wieder
früh schlafen zu gehen. Läßt sich aber die Schlafzeit nach
Belieben verschieben? Was würde geschehen, wenn man ohne den Druck
äußerer Verpflichtungen und ohne jegliches Wissen um die Tageszeit
ganz nach eigenem Gutdünken zu Bett gehen und aufstehen würde,
gleichsam wie in einem Schlaraffenland des schrankenlosen Schlafes? Würden
unter solchen Ausnahmebedingungen Schlafen und Wachen regellos und zufällig
aufeinanderfolgen, oder wäre immer noch ein gewisser Rhythmus erkennbar?
Abb. 11.1 Ruhe-Aktivitäts-Rhythmus einer Versuchsperson,
die länger als ein Jahr kontinuierlich registriert wurde. Jede waagrechte
Linie entspricht einem Tag (von 15 Uhr bis anderntags 15 Uhr). Striche
entsprechen Aktivitätsperioden, weiße Zwischenräume Ruheperioden.
Die Zeit des Zubettgehens und Aufstehens variiert nur wenig. Zwei USA-Reisen
verursachen wegen der Zeitzonenänderung deutliche Rhythmusverschiebungen.
Im Sommerurlaub ist die Schlafzeit etwas verlängert. Das spätere
Aufstehen an den Wochenenden ist aus den periodischen, weißen Einschnitten
am Morgen ersichtlich. Längere Ausfälle der Tagesaktivität
sind auf Defekte am Registriergerät zurückzuführen. (28k
JPG file)
Der Mensch in »zeitfreier«
Umgebung
Auch wenn wir allein, zurückgezogen und ohne
Uhr im stillen Kämmerlein lebten, könnten wir uns dem Einfluß
von Tag und Nacht schwer entziehen. Das Tageslicht, die Laute der Natur,
die Geräusche der Umwelt würden uns über die ungefähre
Tageszeit Bescheid geben. Wollten wir jegliche Zeithinweise ausschalten,
dann müßten wir uns entweder in den hohen Norden begeben, wo
im Sommer dauernd Tag herrscht, oder aber tief unter die Erde gehen, wo
wir weder Licht noch Geräusche wahrnehmen.
Anfang der sechziger Jahre begann man zu untersuchen,
wie sich Menschen verhalten, wenn sie während Tagen und Wochen nicht
wissen, wieviel Uhr es ist. In jenen Jahren schickte sich der Mensch an,
das nähere Weltall und den Mond zu erkunden. Die Raumfahrt faszinierte
Wissenschaft und Politik gleichermaßen, und riesige Mittel waren
verfügbar, um biomedizinische Untersuchungen durchzuführen. Eine
wichtige Frage war, ob sich die Astronauten an die erdferne Umgebung würden
anpassen können. Das Interesse der Raumfahrtbehörde an solchen
Problemen gab auch der Rhythmusforschung Auftrieb, die bis dahin ein wenig
beachtetes Stiefkind der Wissenschaft gewesen war. Michel Siffre, ein beherzter
junger französischer Höhlenforscher, verlagerte in jenen Jahren
mehr und mehr sein Hauptinteresse von der Geologie auf die Biologie. Er
selbst, aber auch seine Mitarbeiter verbrachten Wochen und Monate in vollständiger
Abgeschiedenheit tief unter Tag, um den Einfluß langdauernder Isolation
auf den menschlichen Organismus zu erforschen. Neben der wissenschaftlichen
Fragestellung war bei jenen Experimenten, die in kalten, feuchten und oft
nicht ungefährlichen Höhlen durchgeführt wurden, immer auch
ein Hauch von Abenteurertum beteiligt.
Jürgen Aschoff, Direktor am Max-Planck-Institut
für Verhaltensphysiologie in Erling-Andechs, und sein Mitarbeiter
Rütger Wever, ein Physiker, gingen diese Forschungsprobleme nüchterner
und effizienter an. Sie bauten in der Nähe von München einen
leerstehenden Bunker zu Versuchsräumen um, in denen gleichzeitig zwei
Versuchspersonen getrennt wochenlang bequem leben konnten. Jeder Versuchsteilnehmer
hatte einen Aufenthaltsraum, Küche, WC und Dusche zur Verfügung.
Die Räume im Bunker waren vollständig von Tageslicht und Geräuschen
abgeschirmt, aber mit einer Schleuse versehen, durch die die Versuchsperson
mit der Außenwelt in Verbindung treten konnte. Selbstverständlich
fehlten in den Versuchen alle Uhren, Radios oder sonstigen Geräte,
die eine Zeitangabe hätten vermitteln können. Während der
Experimente konnten verschiedene Meßgrößen registriert
werden. Die Bewegungsaktivität wurde über Meßfühler
im Fußboden aufgezeichnet, die Körpertemperatur durch eine Sonde
im Enddarm. In bestimmten Versuchen wurden periodisch psychologische Tests
durchgeführt oder die chemische Zusammensetzung des Urins bestimmt.
In seinem kürzlich erschienenen Buch »The Circadian System of
Man« faßt Wever die Ergebnisse zusammen, die er an mehr als
zweihundert Versuchspersonen gewinnen konnte.
Bevor wir auf die Meßergebnisse zu sprechen
kommen, wollen wir uns einer Frage zuwenden, die sich bei einer solchen
Versuchsanordnung aufdrängt: Wie fühlen sich die Versuchspersonen,
und was treiben sie während der einsamen Wochen? Wie Wever und seine
Mitarbeiter mir berichteten, betrachten die Versuchsteilnehmer ein solches
Experiment als ein durchaus positives Erlebnis, das viele sogar gern wiederholen
würden. Ist es der Umstand, während einiger Wochen aller Verpflichtungen
ledig und völlig Herr über seine Zeit zu sein, der die Isolation
so angenehm macht, oder liegt die Ursache vielleicht bei den »biologischen
Rhythmen«, die ungehindert ihren natürlichen Lauf nehmen können?
Die Antwort muß vorläufig offen bleiben.
Die Versuchspersonen vertreiben sich die Zeit gewöhnlich
mit Lesen, Schreiben und Musik-Hören oder - wenn es Studenten sind
- mit ungestörten Prüfungsvorbereitungen. Immer wieder kam es
vor, daß am Ende des Versuchs die Versuchsperson mit Überraschung
vernahm, daß die Zeit schon um war. Ähnlich war in einem Höhlenversuch
von Siffre und seinen Mitarbeitern, der fünf Monate gedauert hatte,
der Versuchsteilnehmer überzeugt, erst drei Monate in der Abgeschiedenheit
verbracht zu haben. Die Veränderung des Schlaf-Wach-Musters wird uns
bald eine mögliche Ursache dieser Fehleinschätzung zeigen.
Abbildung 11.2 zeigt schematisch
das Schlaf-Wach-Verhalten einer Person, die in den ersten drei Tagen des
Versuchs noch über Zeitinformationen verfügt, und ihrer Gewohnheit
entsprechend zwischen 23.00 und 7.00 Uhr schläft. Vom vierten Tag
an fehlt dann jeglicher Hinweis auf die Tageszeit. Am ersten Tag ohne Uhr
geht unsere Versuchsperson vierzig Minuten später als gewöhnlich
zu Bett und steht morgens erst um 8.00 Uhr auf, ohne sich der Veränderung
ihrer Schlafzeit bewußt zu sein. An allen weiteren Tagen erfolgen
Schlafengehen und Erwachen jeweils eine Stunde später als am Vortag.
Der »subjektive« Tag der Versuchsperson beträgt demnach
nicht wie gewöhnlich 24, sondern 25 Stunden. Am dreizehnten Tag ohne
Zeitinformation (Versuchstag 16) geht die Versuchsperson anstatt um 23.00
Uhr um 10.40 Uhr vormittags zu Bett und steht abends um 19.00 Uhr auf.
Die Phase ihres Schlaf-Wach-Rhythmus hat sich nun um genau 12 Stunden verschoben.
Würden wir diesen Versuch weiterführen, so müßten
wir nach 25 Tagen feststellen, daß erst 24 subjektive Tage vergangen
wären. Die in »zeitfreier« Umgebung lebende Versuchsperson
wäre nach ihrer eigenen Zeitmessung 24 statt 25 Tage älter geworden,
hätte also 1 Tag gewonnen!
Würden wir diesen Versuch über mehrere
Wochen fortsetzen, würde sich die Wachzeit plötzlich von 17 auf
nahezu 34 Stunden verlängern, die Schlafzeit von etwas mehr als 8
Stunden auf fast 17 Stunden! Mit anderen Worten: Die Versuchsperson würde
von ihrem 25-Stunden-Tag auf einen 50- Stunden-Tag überwechseln, ohne
diese drastische Veränderung des Schlaf-Wach-Rhythmus wahrzunehmen.
Am Ende des Versuches läge dann die Zahl der von der Versuchsperson
gezählten, subjektiven Tage weit unter der Zahl der tatsächlich
vergangenen Tage.
Unabhängig davon, ob der subjektive Tag 25
oder 50 Stunden beträgt, verändert sich das Verhältnis von
Schlaf- zu Wachzeit gewöhnlich kaum. In unserem Beispiel verbringt
die Versuchsperson, wie unter normalen Bedingungen auch während der
Versuchsperiode ohne Uhr ein Drittel ihrer Zeit im Schlaf. Bei einem Kurzschläfer
wäre demnach auch unter »zeitfreien« Bedingungen das Verhältnis
von Schlafzeit zu Wachzeit klein, obwohl sich seine absolute Schlafdauer
verlängert hätte.
Untersucht man unter diesen Bedingungen die Verteilung
der Schlafstadien, so beobachtet man typische Veränderungen: Während
normalerweise die Dauer der REM-Schlaf-Episoden von Zyklus zu Zyklus zunimmt
(Kapitel 2), ist dies im Bunker nicht mehr der Fall. Die erste REM-Schlaf-
Episode tritt jetzt kurz nach dem Einschlafen auf - das heißt: die
REM-Schlaf-Latenz ist kurz, und die Episodendauer ist vergleichbar mit
jener der nachfolgenden Episoden. Der REM-Schlaf-Anteil am Gesamtschlaf
bleibt indessen unverändert. Im Gegensatz zum REM-Schlaf sind der
Zeitverlauf und die Menge des Tiefschlafes durch die Isolation kaum beeinflußt.
Auf der bereits besprochenen schematischen Abbildung
ist ein Fünfundzwanzig-Stunden-Schlaf- Wach-Rhythmus dargestellt.
Diese Periodik wurde für die Darstellung gewählt, da die Periode
des Körpertemperatur-Rhythmus, die Wever in seinen Isolationsexperimenten
festgestellt hat, im Mittel 25 Stunden beträgt. Je nach Individuum
variiert dieser Wert und kann bei der einen Person nur 24,7, bei einer
anderen 25,2 Stunden betragen. Wichtiger als die genaue Periodenlänge
ist indessen die Beobachtung, daß jeder Mensch seinen Rhythmus über
längere Zeit erstaunlich exakt beibehält. Da die in dieser Situation
beobachteten biologischen Rhythmen offensichtlich vom 24-Stunden- Rhythmus
der Erdumdrehung verschieden sind, scheint es unwahrscheinlich, daß
sie durch einen verborgenen Einfluß der Umwelt zustandekommen. Eine
im Organismus selbst vorhandene »innere Uhr« muß also
für ihr Entstehen verantwortlich sein.
Abb. 11.2: Die »innere Uhr« steuert
den Schlaf-Wach-Rhythmus. Schematische Darstellung eines Isolationsversuches
im Bunker. Während der ersten 3 Tage mit Uhr schläft die Versuchsperson
von 23 Uhr bis 7 Uhr. Während der folgenden 12 Tage ohne Uhr verschiebt
sich die Zeit des Zubettgehens jeden Tag um eine Stunde. Die »innere
Uhr« des Menschen läuft mit einer Periodik von etwa 25 Stunden.
(35k JPG file)
Wo sitzt die innere Uhr?
»Die Mimose reagiert auf die Sonne und den
Tag: Blätter und Stiele ziehen sich zusammen und schließen sich
gegen Sonnenuntergang. Dieselbe Reaktion sieht man, wenn man die Pflanze
berührt oder schüttelt. Herr de Mairan hat nun beobachtet, daß
für dieses Phänomen Sonne und Luft gar nicht nötig sind,
und daß die Reaktion nur etwas weniger ausgeprägt ist, wenn
die Pflanze im Dunkeln gehalten wird. Immer noch geht sie ganz deutlich
zur Tageszeit auf, schließt sich abends wieder, um während der
ganzen Nacht geschlossen zu bleiben... Die Mimose nimmt also den Einfluß
der Sonne wahr, ohne ihr in irgendeiner Weise direkt ausgesetzt zu sein...
[Herr de Mairan] lädt die Botaniker und Physiker ein [diese Beobachtung
weiter zu verfolgen], obwohl auch sie eher anderen Problemen nachgehen
mögen. Die eigentliche Physik, welche nur die experimentelle Physik
sein kann, zeigt notwendigerweise nur sehr langsame Fortschritte.«
[46]
De Mairan berichtete 1729 über diese Beobachtungen
in der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Paris. Die von ihm
festgestellten, in der Dunkelheit fortdauernden tagesrhythmischen Blattbewegungen
waren der erste Hinweis, daß Tagesrhythmen, unabhängig von Einflüssen
der Umwelt, fortbestehen können. Doch auch De Mairans Betrachtungen
über den langsamen Fortschritt der Wissenschaft sollten sich als prophetisch
erweisen, denn erst zu Beginn dieses Jahrhunderts wurde seine Entdeckung
systematisch weiter untersucht.
Erwin Bünning, Professor für Botanik an
der Universität Tübingen, untersuchte als einer der ersten tagesrhythmische
Vorgänge an Pflanzen. In der Folge konzentrierte sich das Interesse
mehr auf Rhythmen bei Tieren, wobei vor allem die beiden »Väter«
der Rhythmusforschung, der in Amerika tätige britische Biologe Colin
Pittendrigh und der deutsche Verhaltensphysiologe Jürgen Aschoff grundlegende
Experimente durchführten. Auf dem ersten großen Kongreß
über Rhythmusforschung im Jahre 1960 in Cold Spring Harbor wurde deutlich,
daß Tagesrhythmen in der gesamten belebten Natur weitverbreitet sind.
Wie wir dies bereits bei den Untersuchungen am Menschen gesehen haben,
stimmen gewöhnlich auch bei Tieren die Rhythmen zwar mit dem Tag-Nacht-Zyklus
der Umwelt überein, können aber auch ohne Umwelteinflüsse
weiter bestehen. Offenbar sind auch hier »innere Uhren« für
die rhythmischen Vorgänge verantwortlich.
Wenn Lebewesen ohne Zeitinformation leben, weicht
die Periodenlänge ihrer Tagesrhythmen gewöhnlich von vierundzwanzig
Stunden ab. Der in den USA tätige Rhythmusforscher Franz Halberg hat
deshalb die heute allgemein übliche Bezeichnung »Circadiane«-Rhythmen
(Circa = ungefähr; dies = Tag) geprägt. Sind die Zeitinformationen
aus der Umwelt nicht mehr wirksam, so kommt es zu einem sogenannten »freilaufenden«
Rhythmus. Circadiane Rhythmen sind in den letzten zwei Jahrzehnten Gegenstand
intensiver Forschungsarbeit geworden: Zoologen untersuchen ihre Entstehung
bei Insekten, Mollusken und anderen wirbellosen Tieren, Zellbiologen ihre
Grundlagen an einzelligen Lebewesen. Im Zentrum steht die Frage nach den
Strukturen und biologischen Prozessen, die für die circadianen Rhythmen
verantwortlich sind.
Wenden wir uns einem konkreten Beispiel zu. Wir
wollen einen Versuch betrachten, bei dem die motorische Aktivität
einer Ratte durch ein unter dem Käfig angebrachtes Meßgerät
registriert wurde. Auf Abbildung 11.4 sind Perioden
mit überschwelliger Aktivität als schwarze Balken, Ruhezeiten
als weiße Zwischenräume dargestellt. Um die Veränderungen
deutlicher zu erkennen, wurden jeweils die Werte von zwei Tagen nebeneinander
aufgezeichnet. Die oberste Linie gibt somit das Ruhe-Aktivitäts-Verhalten
der Ratte für Tag 1 und 2 an, die darunter liegende für Tag 2
und 3, und so weiter. In den ersten 14 Tagen wurde das Tier unter künstlichen
Hell-Dunkel-Bedingungen gehalten, wobei es von 11-23 Uhr hell war. Deutlich
wird, wie sehr das Ruhe-Aktivitäts-Verhalten von den Beleuchtungsbedingungen
beeinflußt wird. Die Ratte, ein nachtaktives Tier, ist in der Dunkelperiode
aktiv und ruht in der Hellperiode. Vom Tag 15 an herrschte in diesem Versuch
Dauerdunkel. Das heißt: Das in einer schalldichten Versuchskammer
lebende Tier erhielt keinerlei Informationen mehr über die Tageszeit.
Wie wir dies bereits beim Menschen gesehen haben, verschwindet unter solchen
Bedingungen der Ruhe-Aktivitäts-Rhythmus keineswegs. Seine Periodenlänge
beträgt indessen nicht mehr 24 Stunden, sondern wurde auch im vorliegenden
Versuch länger. Das bewirkte, daß - wie auf der Abbildung
sichtbar - sich die Ruhe-Aktivitäts-Periode im Vergleich zur Ausgangssituation
allmählich auf immer spätere Zeiten verschob.
Wir ersehen aus diesem Versuch, daß bei der
Ratte, wie auch bei den meisten anderen Tieren, der Hell-Dunkel-Zyklus
der Umwelt für circadiane Rhythmen eine sehr wichtige Zeitinformation
darstellt. In der Rhythmusforschung bezeichnet man das Licht als einen
Zeitgeber, der circadiane Rhythmen eines Lebewesens synchronisiert. Es
braucht indessen für die Synchronisation keineswegs eine zwölf
Stunden dauernde Lichtperiode. Zahlreiche Versuche haben gezeigt, daß
eine viel kürzere Lichtdauer (gewöhnlich fünfzehn bis sechzig
Minuten, im Extremfall ein einzelner Lichtblitz) ausreicht, um circadiane
Rhythmen mit der von außen durch das Licht vorgegebenen Periodik
in Übereinstimmung zu bringen.
Bisher haben wir vor allem die Beziehung circadianer
Rhythmen zur Umwelt betrachtet. Nun wollen wir der Frage nach dem Ursprung
der Rhythmen weiter nachgehen. Curt Richter, Professor an der amerikanischen
Johns-Hopkins-Universität, begann schon in den zwanziger Jahren ausgedehnte
Untersuchungen von Ruhe-Aktivitäts-Rhythmen der Ratte. Er beobachtete,
daß der circadiane Rhythmus gegenüber verschiedenen Einwirkungen
resistent ist. Beispielsweise hielt er Tiere bei unterschiedlichen Umgebungstemperaturen,
setzte sie Hunger, Durst und Streß aus, entfernte Hormondrüsen,
schaltete Hirnregionen aus und verabreichte verschiedene Pharmaka. Keine
dieser Maßnahmen vermochte die Periodenlänge oder Phase des
circadianen Ruhe-Aktivitäts-Rhythmus zu beeinflussen. Erst nachdem
größere Gebiete des Zwischenhirns ausgeschaltet worden waren,
beobachtete er Veränderungen, die ihn vermuten ließen, die „innere
Uhr« müsse sich in diesem Hirnteil befinden. Er sollte recht
behalten.
Im Jahre 1972 veröffentlichten Fred Stephan
und Irvin Zucker, zwei an der kalifornischen Berkeley Universität
tätige experimentelle Psychologen, Befunde, die für das ganze
Gebiet der Rhythmusforschung einen entscheidenden Durchbruch bedeuteten.
Sie berichteten, daß die Ausschaltung kleiner, umschriebener Gebiete
im Zwischenhirn von Ratten die circadianen Rhythmen von Ruhe-Aktivität
und Wasseraufnahme vollständig zum Verschwinden brachten. Die Tiere
zeigten nach diesem Eingriff ein Aktivitäts- und Trinkverhalten, das
unregelmäßig über den ganzen Tag verteilt war. Sie konnten
dabei ihre Flüssigkeitsaufnahme immer noch normal regulieren und zeigten
auch keine groben Veränderungen ihres Verhaltens. Als die entscheidende
anatomische Struktur im Zwischenhirn erwies sich ein kleines, 1x2 mm großes
Kerngebiet, das direkt über der Kreuzungsstelle der Sehnerven (Chiasma
opticum) gelegen ist. Abbildung 11.5 zeigt, wie
sich die Ausschaltung dieser sogenannten suprachiasmatischen Kerne auf
den Ruhe-Aktivitäts-Rhythmus der Ratte auswirkt. Im Vergleich zum
normalen Tier ist die Rhythmik vollständig verschwunden, was sich
darin äußert, daß die Aktivitätsepisoden in unregelmäßiger
Abfolge über den ganzen Tag verteilt sind. Zusammen mit Irene Tobler
und Gerard Groos haben wir untersucht, ob das Verschwinden des circadianen
Schlaf-Wach-Rhythmus auch die Steuerung von Tiefschlaf und REM-Schlaf beeinträchtigt.
Es zeigte sich, daß auch arhythmische Tiere auf Schlafentzug mit
einer Zunahme von Tiefschlaf und REM-Schlaf reagieren. Wir schlossen aus
diesen Befunden, daß der circadiane Schlaf-Wach-Rhythmus und die
von der Wachzeit abhängige Regulation der Schlafstadien auf verschiedenen
Mechanismen beruhen.
Der Entdeckung von Stephan und Zucker folgten zahlreiche
weitere Untersuchungen, die bestätigten, daß die Ausschaltung
der suprachiasmatischen Kerne circadiane Rhythmen zum Verschwinden bringen.
Daher stellte sich die Frage, ob diese Kerne wirklich der Sitz der langgesuchten
»inneren Uhr« sind oder nur eine wichtige Schaltstelle im System
darstellen, welches für die Entstehung der Rhythmen verantwortlich
ist. Um dieses Problem weiter zu untersuchen, unterbrachen die am bekannten
Mitsubishi-Institut bei Tokyo tätigen Forscher Dr. Shin-ichi Inouye
und Dr. Hiroshi Kawamura durch einen chirurgischen Eingriff sämtliche
Faserverbindungen zwischen dem Zwischenhirngebiet der suprachiasmatischen
Kerne und dem übrigen Gehirn der Ratte. Die elektrische Nervenzellaktivität
im so isolierten Kerngebiet sowie in anderen Gehirnteilen wurde durch feinste
implantierte Elektroden registriert. Wie zu erwarten war, zeigte nach Durchtrennung
der Faserverbindung weder das Verhalten der Tiere noch die elektrische
Aktivität der Hirnareale außerhalb des Zwischenhirns eine circadiane
Rhythmik. Die isolierten suprachiasmatischen Kerne hingegen wiesen immer
noch circadiane Rhythmen in ihrer Nervenzellaktivität auf. Offensichtlich
kann in diesem Kerngebiet auch ohne Verbindungen zum restlichen Gehirn
ein circadianer Rhythmus weiterbestehen.
Für die Möglichkeit, daß circadiane
Rhythmen in den suprachiasmatischen Kernen selbst entstehen können,
gibt es demnach gute Hinweise. Einige Fragen bleiben aber noch offen. So
wird heute diskutiert, ob bei höherentwickelten Säugern auch
Strukturen außerhalb dieser Kerne Rhythmen erzeugen oder zumindest
nach Ausfall der »Hauptuhr« als »Ersatzuhren« einspringen
können.
Abb. 11.3: Titelblatt der Berichte der Königlichen
Akademie der Wissenschaften aus dem Jahre 1729. Hierin beschrieb De Mairan
erstmals die Tagesperiodik einer Pflanze. (39k JPG file)
Abb. 11.4: Die »innere Uhr« bestimmt
den Ruhe-Aktivitäts-Rhythmus einer Ratte, die unter Dauerdunkelbedingungen
lebt. Waagrechte Striche entsprechen Aktivitätsperioden, weiße
Zwischenräume Ruheperioden. Zur Verdeutlichung der Rhythmusverschiebung
sind auf einer Linie 2 Tage nebeneinander dargestellt (d. h. zuoberst Tag
1 und 2, darunter Tag 2 und 3, usw.). In den ersten 2 Wochen lebt das Tier
unter den gewohnten »12 Stunden hell -12 Stunden dunkel«- Bedingungen.
Aktivitätsperioden sind weitgehend auf die Dunkelzeit (23 bis 11 Uhr)
beschränkt. In den folgenden 3 Wochen herrscht Dauerdunkel. Der Ruhe-Aktivitäts-Rhytmus
bleibt erhalten, doch das Ende der Aktivitätsperiode verzögert
sich jeden Tag um etwa 25 Minuten. Der von der »inneren Uhr«
gesteuerte circadiane Rhythmus ist somit länger als der 24-Stunden-Rhythmus.
(23k JPG file)
Abb. 11.5: Der Tagesrhythmus verschwindet, wenn
bestimmte Nervenzellgruppen im Zwischenhirn ausgeschaltet werden. Links:
Normaler Tagesrhythmus einer Ratte. Das Tier ist vor allem während
der Dunkelzeit aktiv. Rechts: Nach Ausschaltung der suprachiasmatischen
Nervenzellkerne im Zwischenhirn geht der Tagesrhythmus vollständig
verloren. Aktivität und Ruhe sind nun regellos über den ganzen
Tag verteilt. (40k JPG file)
Wenn Rhythmen eigene Wege gehen
Ende der fünfziger Jahre berichtete die britische
Forscherin Mary Lobban mit ihren Mitarbeitern über ein ungewöhnliches
Experiment. Zusammen mit ihren Versuchspersonen verbrachten sie einen Sommer
in Spitzbergen, wo der Polartag keinen Hinweis auf die Tageszeit gibt.
Die zwölf Versuchspersonen, die in getrennten Gruppen lebten, trugen
Armbanduhren, die ohne ihr Wissen präpariert worden waren. Bei der
einen Gruppe war das Uhrwerk beschleunigt, so daß der Stundenzeiger
für eine Umdrehung nicht 12, sondern nur 10.5 Stunden benötigte.
Die andere Gruppe trug zu langsam gehende Uhren, deren Stundenzeiger für
eine Umdrehung 13,5 Stunden brauchte. Die Schlaf-Wach-Rhythmik der Versuchsteilnehmer
paßte sich sofort an diese veränderte Zeitstruktur an. Die Probanden
verlebten, ohne es zu wissen, 21-Stunden- oder 27-Stunden-Tage. Indessen
ließen sich nicht alle Rhythmen des Körpers durch die manipulierten
Uhren täuschen. So behielt zum Beispiel der Rhythmus der Kaliumkonzentration
im Urin eine Periodik von nahezu 24 Stunden bei. Es kam somit zu einer
sogenannten »internen Desynchronisation« verschiedener biologischer
Rhythmen, ihre gegenseitigen Phasenbeziehungen veränderten sich, und
das wohlabgestimmte zeitliche Gefüge des Organismus geriet in Unordnung.
Eine Abweichung des Schlaf-Wach-Rhythmus von anderen
circadianen Rhythmen wurde auch in Isolationsexperimenten immer wieder
beobachtet. Die Körpertemperatur wies dabei gewöhnlich einen
stabilen Rhythmus mit einer Periodenlänge von ungefähr 25 Stunden
auf, während die Periode des Schlaf-Wach-Rhythmus viel stärker
variierte. Die unterschiedliche Periodenlänge führte zu einer
sich ständig ändernden Phasenbeziehung zwischen den Rhythmen.
Während unter »zeitfreien« Versuchsbedingungen im synchronisierten
Ausgangszustand der Schlaf typischerweise mit dem Temperaturminimum zusammenfällt,
bedingt die interne Desynchronisation, daß die Versuchsperson jeden
Tag an einem anderen Punkt des Temperaturrhythmus zu Bett geht. Trotz dieser
sich ändernden Phasenbeziehung zwischen den zwei Rhythmen übt
aber der Rhythmus der Körpertemperatur offenbar einen Einfluß
auf den Schlaf aus. So hat Jürgen Zulley, ein Rhythmusforscher in
Erling-Andechs, beobachtet, daß eine Schlafperiode, die am Tiefpunkt
des Temperaturzyklus begann, gewöhnlich von kürzerer Dauer war
als eine, deren Beginn mit dem Temperaturmaximum zusammenfiel. Dementsprechend
konzentrierten sich die Einschlafzeiten auf die sinkenden, die Aufwachzeiten
auf die ansteigenden Temperaturen.
Gibt es im Gehirn eine, zwei oder sogar mehrere
»innere Uhren« (oder in der Fachsprache: circadiane Oszillatoren),
welche die Rhythmen verschiedener Vorgänge im Körper bedingen?
Die amerikanische Forschergruppe von Elliot Weitzman (Montefiori Hospital,
New York) und Richard Kronauer (Harvard Universität, Boston) postulierten
deren zwei: einen stabilen Oszillator mit einer Periodik von nahezu 25
Stunden, der für die Rhythmen der Körpertemperatur, des Nebennierenrindenhormons
Cortisol und den REM-Schlaf verantwortlich sei, und einen zweiten, labilen
Oszillator, welcher der Entstehung der Schlaf-Wach-Rhythmik zugrunde liege.
Zusammen mit Serge Daan und Domien Beersma (Universität Groningen)
sind wir zu dem Schluß gekommen, daß ein einziger Oszillator
ausreicht, um die experimentellen Beobachtungen zu erklären. Gemäß
unserer Hypothese läßt sich die interne Desynchronisation des
Schlaf-Wach-Rhythmus von anderen Rhythmen durch die Annahme erklären,
daß an der Schlafregulation ein sogenannter »Relaxationsprozeß«
beteiligt ist, der im Wachen eine steigende, im Schlafen eine sinkende
Tendenz aufweist und der mit einem zweiten, circadianen Prozeß in
Beziehung steht. Das dieser Hypothese zugrundeliegende Modell werden wir
im letzten Kapitel ausführlicher besprechen.
Rhythmusstörungen als Berufsrisiko
Weltumsegler früherer Jahrhunderte mußten
viel Mühsal und Beschwernis auf sich nehmen. Eines hatten sie aber
modernen Globetrottern sicher voraus: Sie litten nicht unter dem Jet-lag-Syndrom,
jener unliebsamen Folge von transatlantischen Flugreisen, die eine immer
größere Zahl von Passagieren aus eigener Erfahrung kennt. Nach
einem Flug in westlicher Richtung wacht man am Bestimmungsort oft noch
einige Tage lang ungewohnt früh auf und fühlt dafür am Nachmittag
eine bleierne Müdigkeit. Reisen in östlicher Richtung verursachen
eher Einschlafstörungen. Die Hauptursache dieser Beschwerden liegt
darin begründet, daß circadiane Rhythmen sich nur langsam an
eine Änderung des Tag-Nacht-Zyklus anpassen. So sind denn nach einem
Flug nach Amerika die Rhythmen unseres Stoffwechsels und unserer Hormone
immer noch auf europäische Zeitverhältnisse eingestellt. Genauere
Untersuchungen haben ergeben, daß es bis zu zwei Wochen dauern kann,
bis sich Rhythmen an eine große Phasenverschiebung vollständig
angepaßt haben. Viele Menschen erleben das Reisen in westlicher Richtung
als wesentlich angenehmer als das Reisen nach Osten. Das könnte darauf
zurückzuführen sein, daß frei laufende circadiane Rhythmen
eine Periodenlänge von 25 Stunden aufweisen und daß daher die
vorübergehende Verlängerung der 24-Stunden-Periodik, wie sie
bei Reisen in Westrichtung erforderlich ist, leichter vonstatten geht als
eine Verkürzung unter 24 Stunden.
So störend die Folgen von Rhythmusverschiebungen
für den Reisenden auch sein können, so sind sie doch nur eine
kurzfristige Unannehmlichkeit. Ein viel ernsthafteres Problem ergibt sich
für Personen, derer Beruf eine häufige Rhythmusänderung
mit sich bringt. Zu ihnen gehören das auf Langstreckenflügen
im Einsatz stehende Flugpersonal und vor allem auch jene Arbeitnehmer -
in den meisten Industrieländern sind es etwa zwanzig Prozent aller
arbeitenden Personen -, die außerhalb der normalen Arbeitszeit beruflich
tätig sind. Für die eigentlichen Schichtarbeiter können
der periodische Wechsel der Arbeitszeit und die daraus resultierenden häufigen
Verschiebungen des circadianen Rhythmus zu einem gravierenden Problem werden.
Es ist nicht erstaunlich, daß bei Menschen
mit solchen Berufen häufig Schlafstörungen auftreten. Hauptbeschwerden
sind Einschlafstörungen, häufiges Erwachen sowie eine zu kurze
Schlafdauer. Lärm aus der Umgebung, der natürlich tagsüber
intensiver ist als nachts, kann die Schlafqualität zusätzlich
beeinträchtigen. Die Folge ist, daß der Tagesschlaf von Leuten,
die in Nachtschicht arbeiten, um zwei bis drei Stunden kürzer ist
als ihr Nachtschlaf zu Zeiten der Tagesschicht. So kann bei ihnen neben
Rhythmusstörungen auch ein Schlafmangel entstehen, der Wohlbefinden
und Leistungsfähigkeit zusätzlich beeinträchtigt. Schlafmittel
erscheinen für viele als einzige Möglichkeit, um wenigstens zu
einigen Stunden ungestörten Schlafs zu kommen. Eine kürzlich
erfolgte Umfrage hat denn auch ergeben, daß beim Flugpersonal während
der Arbeitstage der Gebrauch von Schlafmitteln im Vergleich zu den Ruhetagen
massiv erhöht ist.
Viele Störungen können aufgrund der Gesetzmäßigkeit
circadianer Rhythmen erklärt werden. Bei plötzlichen, länger
dauernden Änderungen der Arbeitszeit passen sich die Rhythmen des
Stoffwechsels und der Hormone nur langsam an die neuen Gegebenheiten an,
während der Schlaf- Wach-Zyklus sich gewöhnlich sofort umstellen
muß. Der Schlaf fällt somit vorübergehend auf einen Zeitabschnitt,
der von der »inneren Uhr« für das Wachsein vorgesehen
ist: Die Körpertemperatur, die Konzentration des bei Streß freigesetzten
Nebennierenhormons Adrenalin sowie die Nierentätigkeit sind erhöht,
während die Freisetzung von Melatonin (des Hormons der Zirbeldrüse)
minimal ist. Der Schlaf ist in dieser ersten Phase der Rhythmusänderung
häufig unterbrochen, kurz und wenig erholsam. Analoge Probleme ergeben
sich während der Wachzeit, da die circadianen Rhythmen auf Ruhe »programmiert«
sind. Müdigkeit, Konzentrationsschwäche und Leistungsverminderung
sind häufige Folgen.
Es gibt Menschen, denen Rhythmusverschiebungen besonders
stark zusetzen und die praktisch unfähig sind, zu ungewohnter Zeit
anspruchsvolle Tätigkeiten zu verrichten. Andere stellen sich leichter
auf solche Veränderungen ein. Es ist unklar, worauf diese individuellen
Unterschiede beruhen. Bisher ist nur bekannt, daß die Schwierigkeit,
sich an Rhythmusverschiebungen anzupassen, mit fortschreitendem Alter zunimmt.
Es wäre indessen verfehlt, anzunehmen, die
mannigfaltigen Probleme der Schichtarbeit wären einzig in den desynchronisierten
circadianen Rhythmen begründet. Häufig belastet der veränderte
Arbeitsrhythmus das Verhältnis zur Familie und erschwert die sozialen
Beziehungen. Der Schichtarbeiter gerät leicht in ein zeitliches »Ghetto«,
in welchem er infolge seiner abweichenden Schlaf- und Eßgewohnheiten
von seiner Umwelt isoliert lebt.
Rhythmusverschiebung als Therapie
Vor wenigen Jahren beschrieb der amerikanische Neurologe
und Schlafforscher Elliot Weitzman zusammen mit Charles Czeisler und anderen
Mitarbeitern eine eigentümliche Schlafstörung. Ein junger Mann
litt schon seit langem darunter, nicht vor zwei Uhr morgens einschlafen
zu können. Da er durch seine beruflichen Verpflichtungen genötigt
war, morgens um 7.00 Uhr aufzustehen, kam er während der Wochentage
nicht zu genügend Schlaf. An Wochenenden schlief er dafür bis
mittags. Alle Behandlungsversuche, von Schlafmitteln angefangen bis zu
psychologischen Therapien, waren ohne Erfolg geblieben. Weitzman und Czeisler
kamen auf den Gedanken, es könnte eine Rhythmusstörung vorliegen,
die es dem Patienten unmöglich machte, die Periodenlänge seines
circadianen Schlaf-Wach-Rhythmus auf weniger als 24 Stunden zu verkürzen,
um die Einschlafzeit vorzuverschieben.
Wie wir bereits gesehen haben, ist die Anpassung
an eine Zeitzonenverschiebung in Ost-West- Richtung, die eine Verlängerung
des circadianen Rhythmus erfordert, im allgemeinen leichter zu vollziehen
als in umgekehrter Richtung. Aufgrund solcher Überlegungen rieten
Weitzman und Czeisler dem Patienten, nicht früher, sondern später
als üblich zu Bett zu gehen. Die Behandlung der Schlafstörung
bestand also in einer absichtlichen Verlängerung des Schlaf-Wach-Rhythmus,
um die Einschlafzeit rund um die Uhr in die gewünschte Phasenlage
zu bringen.
Praktisch wurde dies so durchgeführt, daß
der junge Mann jeden Tag drei Stunden später als am Vortag zu Bett
ging. Nach einigen Tagen dieser Behandlung schlief er tagsüber und
wachte in den Abendstunden auf. Selbstverständlich mußte er
sich für diese Zeit von der Arbeit beurlauben lassen. Nach einer Woche
war es soweit: Er ging um 23.00 Uhr, zu seiner idealen Einschlafzeit, zu
Bett, schlief sogleich ein und hatte bis 7.00 Uhr morgens sein Schlafpensum
erfüllt. Der Patient war geheilt, mußte allerdings weiterhin
eine sehr regelmäßige Bettzeit einhalten, um nicht wieder in
die Situation vor der Therapie zu geraten.
Seit diesem ersten Fall haben Weitzman und Mitarbeiter,
aber auch andere Schlafforscher eine ganze Reihe solcher Fälle beschrieben
und in der erwähnten Weise mit Erfolg behandelt. Das Krankheitsbild
erhielt den Namen »Delayed Sleep Phase Syndrome« (Syndrom der
verzögerten Schlafphase).
Betrachten wir nun noch eine andere medizinische
Anwendung einer Rhythmusverschiebung: Im Jahre 1979 berichteten Tom Wehr,
Anna Wirz-Justice und weitere Forscher des National Institute of Mental
Health (USA) über die erfolgreiche Behandlung einer Patientin, die
unter einer schweren, sogenannten endogenen Depression litt. Auch in diesem
Fall waren verschiedene Behandlungen ohne Erfolg durchgeführt worden.
Die Forschergruppe versuchte nun der Patientin zu helfen, indem sie ihre
Schlafzeit um 6 Stunden vorverschob. Das heißt: Anstatt wie üblich
um 23.00 Uhr ging sie schon um 17.00 Uhr zu Bett. Diese ungewöhnliche
Behandlungsform beruhte auf theoretischen Überlegungen. Wehr und Mitarbeiter
hatten bei depressiven Patienten beobachtet, daß verschiedene circadiane
Rhythmen bezüglich des Schlaf-Wach-Rhythmus eine abnorme Phasenbeziehung
aufwiesen. So fiel beispielsweise der Schlafbeginn mit dem Minimum der
Körpertemperatur zusammen und nicht, wie bei Gesunden, mit der sinkenden
Temperatur. Beim Depressiven trat also der Schlaf gewissermaßen »verspätet«
ein.
Die Frage war, ob eine solche abnorme Phasenbeziehung
mit der depressiven Erkrankung in ursächlichem Zusammenhang stehen
könnte. Träfe dies zu, so müßte die Normalisierung
der Phasenbeziehung zu einer Besserung führen. Tatsächlich hatte
das Vorverschieben des Schlafes die erhoffte antidepressive Wirkung. Die
Besserung des Krankheitsbildes hielt während fast zwei Wochen an.
Am Ende dieser Zeit hatte sich der Temperaturrhythmus vollständig
an den Schlaf-Wach- Rhythmus angepasst, so daß wieder die ursprüngliche
Phasenbeziehung vorherrschte. Zu diesem Zeitpunkt waren die depressiven
Symptome wieder deutlicher geworden. Ein abermaliges Vorverlegen der Schlafzeit
brachte sie wiederum für eine begrenzte Zeit zum Verschwinden. Die
Anwendung der Behandlung bei anderen Patienten war allerdings nur teilweise
erfolgreich. Weitere Untersuchungen werden zeigen müssen, inwieweit
diese Rhythmustherapie allgemein anwendbar ist. Weitzmans Therapie der
Schlafstörung und Wehrs Behandlung der Depression ist gemeinsam, daß
sie auf einer Verschiebung der Schlafzeit beruhen. Das ist ein origineller
und neuer Ansatz, um Krankheiten zu behandeln, gegen die bisher vorwiegend
mit Medikamenten vorgegangen wurde. Obwohl sich die Behandlungsart vorläufig
erst in der Abklärungsphase befindet und deshalb vor allem für
die Grundlagenforschung von Interesse ist, zeichnen sich doch ganz neue,
nicht-medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten ab. Abschließend
läßt sich deshalb feststellen, daß - wie wir schon seit
einiger Zeit wissen - umweltbedingte Rhythmusstörungen unser Wohlbefinden
maßgeblich beeinträchtigen können. Neu ist die Erkenntnis,
daß sich hinter gewissen Störungen und Krankheiten körpereigene
Rhythmusstörungen verbergen können, die möglicherweise bald
durch eine entsprechende »Rhythmustherapie« behandelt werden
können.
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