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Das Geheimnis des Schlafs von A. Borbély
- Kapitel 3
Buchausgabe © 1984 Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart
(vergriffen)
Ausgabe für das Internet, 1998, A. Borbély, Universität
Zürich.
Schlaf - ein Thema mit
Variationen
Lausius - ein alter Dichter,
bestimmt dem Jünglinge und Greise fünf Stunden,
dem Kaufmann sechs, den Edelleuten sieben,
und dem faulen und ganz geschäftslosen Menschen
acht Stunden zum Schlaf.
Heinrich Nudow, 1791
Schlaf in verschiedenen Lebensabschnitten
Die ersten Tage nach der Geburt verbringt der Säugling
zu zwei Dritteln schlafend. In Abständen von 2-6 Stunden wacht er
auf, trinkt seine Milch und schläft kurz danach wieder ein. Der Schlaf
ist dabei nahezu gleichmäßig auf 24 Stunden verteilt. Glücklicherweise
währt dieser die Nachtruhe der Eltern oft arg strapazierende Zustand
nicht lange. Bereits beim drei Monate alten Säugling kommen Wachzeiten
nachts nur noch selten vor, das Kind »schläft durch«.
Mit sechs Monaten schläft es zwar noch rund 12 Stunden täglich,
ist aber auch schon während längerer Zeiten ununterbrochen wach.
In den ersten Lebensjahren nimmt vor allem der Schlaf
tagsüber ab. Während Kinder im Vorschulalter oft noch am frühen
Nachmittag schlafen, sind sie nach Schuleintritt bereits den ganzen Tag
über wach. Das sogenannte »polyphasische« (mehrphasische)
Schlafmuster des Neugeborenen ist also im Laufe der ersten sechs Jahre
in das monophasische (einphasische) Muster des Erwachsenen übergegangen.
Wie verhält es sich nun mit den Schlafstadien?
Nach der Geburt besteht der Schlaf zu gleichen Teilen aus REM-Schlaf und
Non-REM-Schlaf. Der REM-Schlaf des Säuglings hat schon viele Ähnlichkeiten
mit dem des Erwachsenen. Sporadisch treten rasche Augenbewegungen auf,
der Spannungszustand der Willkürmuskulatur ist stark reduziert, Atmung
und Puls sind unregelmäßig. Anders als beim Erwachsenen unterscheidet
sich allerdings das REM-Schlaf-EEG nur wenig vom Wach-EEG. Auch ist der
Säugling im REM-Schlaf viel unruhiger als der Erwachsene, Arme und
Beine bewegen sich fast ständig, ebenso die Gesichtsmuskeln. Besonders
bei Frühgeborenen ist die Bewegungsaktivität so ausgeprägt,
daß sich der REM-Schlaf vom Wachzustand nur schwer unterscheiden
läßt. In dieser frühen Entwicklungsphase spricht man daher
auch von »aktivem Schlaf«, im Gegensatz zum »ruhigen
Schlaf« ohne Augen- und Körperbewegungen, der dem Non-REM-Schlaf
entspricht. Aber auch der Ablauf der Schlafstadien weist Besonderheiten
auf: Bei Neugeborenen folgt auf den Wachzustand häufig unmittelbar
REM-Schlaf, was beim Erwachsenen ungewöhnlich ist. Erst nach zwei
bis drei Monaten kommt es zur Abfolge Wachzustand/Non-REM-Schlaf/REM-Schlaf,
die dann während des ganzen Lebens beibehalten wird.
Wie Abbildung 3.3 zeigt, nimmt
der REM-Schlafanteil in den ersten Lebensmonaten rapide ab. Beim zwei bis
drei Jahre alten Kleinkind ist er bereits auf 25 Prozent des Gesamtschlafs
abgesunken, also auf einen Wert, der sich nicht mehr wesentlich vom Schlaf
des Erwachsenen unterscheidet.
Wie steht es aber mit dem Tiefschlaf? Beim Neugeborenen
tritt zunächst im Non-REM-Schlaf ein von raschen und langsamen Wellen
durchsetztes EEG-Muster auf, das erst im Verlauf der ersten Monate in ein
kontinuierliches, von langsamen Wellen bestimmtes Muster übergeht.
Bereits beim drei Monate alten Säugling sehen wir, daß der Tiefschlaf
zu Nachtbeginn vorherrscht, ein Befund, der der Stadienverteilung des Erwachsenen
entspricht.
Schließlich muß noch auf die zyklische
Abfolge von Non-REM- und REM-Schlaf hingewiesen werden, die ebenfalls schon
beim Kleinkind zu beobachten ist. Allerdings beträgt die Zyklusdauer
beim Einjährigen nur 45-50 Minuten, verlängert sich beim größeren
Kind (5-10 Jahre) auf 60-70 Minuten, um schließlich den für
Erwachsene typischen Wert von 90 Minuten zu erreichen. Zusammenfassend
können wir festhalten, daß wesentliche Elemente des Erwachsenenschlafes
bereits im frühen Kindesalter vorhanden sind. Mit fortschreitender
Entwicklung beschränkt sich der Schlaf immer mehr auf die Nachtstunden,
die Gesamtschlafdauer nimmt allmählich ab, und der REM- Schlafanteil
verringert sich von der Hälfte auf weniger als ein Viertel des gesamten
Schlafes.
Auf den Schlaf des Erwachsenen jüngeren und
mittleren Alters werden wir noch zu sprechen kommen. Hier sei zunächst
nur darauf hingewiesen, daß das beschriebene monophasische Schlafmuster
nicht immer vorherrschen muß. Während in zentral- und nordeuropäischen
Ländern der Mittagsschlaf bei berufstätigen Erwachsenen selten
ist, ist er im Mittelmeerraum verbreitet. In jenen südlichen Ländern
erlaubt die Siesta, die Stunden der größten Hitze am Mittag
und Nachmittag schlafend zu verbringen. In den anschließenden kühleren
Abend- und Nachtstunden kann man dann erfrischt und ausgeruht erneut der
Arbeit und dem Vergnügen nachgehen. In einer neuen Umfrage des griechischen
Schlafforschers Constantin Soldatos in Athen gaben 42 Prozent der Befragten
an, mindestens dreimal pro Woche mittags zu schlafen, wobei die Schlafdauer
im Durchschnitt etwas mehr als eine Stunde beträgt. Laut Soldatos
weist dieses Ergebnis darauf hin, daß auch in Griechenland diese
früher weitverbreitete Gepflogenheit seltener wird, daß also
immer mehr Leute freiwillig oder unfreiwillig auf diese Ruhepause verzichten.
Klimatische Gegebenheiten können also zur Beibehaltung jenes biphasischen
(zweiphasischen) Schlafmusters führen, das für das Kind im Vorschulalter
typisch ist. Interessanterweise ist im heutigen China der als Xiu-Xi bezeichnete
Mittagsschlaf weit verbreitet. In Fabriken und Büros legen sich Arbeiter
und Angestellte nach dem Mittagessen regelmäßig zur Ruhe. »Das
arbeitende Volk hat das Recht zu ruhen«, heißt es in Artikel
49 der chinesischen Verfassung. Der Schlafforscher Shiyi Liu, der an der
Akademie der Wissenschaften in Shanghai tätig ist und einen längeren
Studienaufenthalt in Europa absolviert hat, sagte mir besorgt: »Die
Leute hier im Westen schlafen zu wenig. Außerdem vergnügen sich
in Deutschland die Studenten mehrmals in der Woche bis in die frühen
Morgenstunden in Discos. Wohin wird das führen?«
Ältere Leute schlafen auch bei uns häufig
tagsüber. Bei einer Umfrage in der Altersgruppe zwischen 65 und 83
Jahren fand Inge Strauch, Schlafforscherin und Professorin für klinische
Psychologie an der Universität Zürich, daß 60 Prozent der
Befragten häufig oder immer einen Mittagsschlaf halten. Das vermehrte
Schlafen tagsüber ist mit einer Reduktion des Nachtschlafs verbunden.
Ob sich aber die gesamte tägliche Schlafzeit im Alter ändert,
ist ungeklärt. Das häufige Einnicken älterer Leute während
der Tagesstunden und das wiederholte Aufwachen in der Nacht führen
zu einem polyphasischen Schlafmuster, das mit dem frühkindlichen Schlafmuster
gewisse Ähnlichkeiten hat.
Nicht nur der Schlaf-/Wachzyklus, sondern auch die
Schlafstadien und das Schlaf-EEG verändern sich. Ältere Leute
verbringen weniger Zeit im Tiefschlaf, und die für dieses Schlafstadium
charakteristischen langsamen Wellen (Deltawellen) sind seltener und weniger
ausgeprägt. Der REM- Schlaf-Anteil bleibt dagegen bis ins hohe Alter
relativ konstant (siehe Abbildung 3.3).
Mit zunehmendem Alter werden aber auch Schlafstörungen
häufiger: Ältere Leute liegen oft lange ohne Schlaf im Bett,
müssen nachts häufig aufstehen, um auf die Toilette zu gehen,
und erwachen vielfach schon in den frühen Morgenstunden, eine Erscheinung,
die scherzhaft als »senile Bettflucht« bezeichnet wird. Dabei
fühlen sie sich im allgemeinen ausgeruht und stehen im Gegensatz zu
vielen jüngeren Personen gerne früh auf. Das leichte und frühe
Aufstehen muß indessen nicht bedeuten, daß alle älteren
Leute mit ihrem Schlaf zufrieden sind. Im Gegenteil: Im Alter nehmen, wie
schon erwähnt, Klagen über schlechten Schlaf drastisch zu, was
sich auch im hohen Schlafmittelverbrauch widerspiegelt. Ob der häufig
unterbrochene und subjektiv oft unbefriedigende Nachtschlaf auf einen normalen
Alterungsprozeß des Organismus zurückzuführen ist oder
ob er als Folge krankhafter Veränderungen betrachtet werden muß,
ist schwer zu entscheiden.
Abb. 3.1: »Schlafendes Kind«.
(Philipp Otto Runge, um 1806). (30k JPG file)
Abb. 3.2: Im Laufe der Entwicklung
beschränkt sich der Schlaf immer mehr auf die Nacht. Der polyphasische
(mehrphasische) Schlaf nach der Geburt wird im Vorschulalter biphasisch
(zweiphasisch) und später monophasisch (einphasisch). Im höheren
Alter kommen Schlafperioden tagsüber wieder häufiger vor. (24k
JPG file)
Abb. 3.3: Die Verteilung der Schlafstadien ist abhängig
vom Lebensalter. Beim Neugeborenen macht der REM-Schlaf die Hälfte
des Gesamtschlafes aus. Schon im Verlauf des ersten Lebensjahres verringert
sich die REM-Schlafzeit drastisch, während die Non-REM-Schlafzeit
praktisch gleich bleibt. Im Erwachsenenalter beträgt der REM-Schlafanteil
am Gesamtschlaf bloß noch 20-25%. Da die Abbildung auf Befunden beruht,
die im Schlaflabor erhoben wurden, ist, im Vergleich zu den aus Umfragen
ermittelten Werten, die Gesamtschlafdauer im Erwachsenenalter zu kurz.
Es ist auch nicht nachgewiesen, daß die Schlafdauer im höheren
Alter kürzer ist als im früheren Erwachsenenalter. Ferner ist
zu beachten, daß das Lebensalter logarithmisch dargestellt ist, d.
h. daß die Zeit mit zunehmendem Alter immer gedrängter erscheint.
(Nach einer revidierten Abbildung von Roffwarg und Mitarbeitern, 1966.)
(22k JPG file)
Abb. 3.4: »Gemischte Siesta« (Paul Klee,
1934). (18k JPG file)
Abb. 3.5: Der Schlaf älterer Leute ist nachts
häufig unterbrochen. Der Ruhe-Aktivitäts-Rhythmus wurde bei einem
66jährigen Rentner und bei einem 44jährigen, berufstätigen
Mann während eines Monats ununterbrochen aufgezeichnet. Jede waagrechte
Linie entspricht einem Tag. Hohe Gipfel tagsüber entsprechen häufigen
Körperbewegungen, leere Zwischenräume Ruheperioden. Beim jüngeren
Mann (rechts) ist die Tagesaktivität hoch und die Nachtruhe ausgeprägt.
Beim älteren Mann (links) sind lange Aktivitätsperioden tagsüber
seltener, und die Gesamtaktivität ist besonders in den Abendstunden
deutlich vermindert. Dafür sind aber die nächtlichen Ruheperioden
häufig von Bewegungen unterbrochen, die zum Teil durch Aufwachen und
Aufstehen nachts zustande kommen. Die über den ganzen Monat gemittelte
Aktivität ist zuunterst dargestellt. (Aus einer Untersuchung von M.
Loepfe.) (43k JPG file)
Frühaufsteher und Nachtmenschen
»Morgenstund’ hat Gold im Mund«, sagt
das Sprichwort. Seit alters her gilt es als lobenswert und tugendhaft,
früh schlafen zu gehen und morgens das Tagwerk früh zu beginnen.
»Früh zu Bett und früh wieder auf, gibt gesunden Lebenslauf«,
heißt es in einer anderen Volksweisheit. Abends spät aufzubleiben
und morgens lange zu schlafen galt vor allem früher als verwerflich
und lasterhaft. »Pfui, Langschläferin«, schimpft die Wärterin
in Shakespeares Romeo und Julia, als sie Julia noch schlafend vorfindet.
Das frühe Zubettgehen wurde nicht nur als moralisch erstrebenswert,
sondern auch als besonders gesund angesehen. Professor Theodor Stöckmann,
deutscher Lyzeumsdirektor zu Beginn dieses Jahrhunderts, verfocht die These
des sogenannten Naturschlafs. Er betrachtete den Schlaf vor Mitternacht
als doppelt so erholsam wie den Schlaf nach der Geisterstunde. Er behauptete
auch, daß man die Schlafzeit problemlos auf 4-5 Stunden pro Nacht
verkürzen könnte, wenn man abends bereits um 7 Uhr zu Bett ginge.
Stöckmann und seine Anhänger führten zwar zahlreiche Fallberichte
an, um ihre Theorie des Naturschlafs zu stützen, doch ernsthafte wissenschaftliche
Untersuchungen fehlen bis heute. Für die immer noch verbreitete Ansicht,
der Schlaf vor Mitternacht sei besonders gesund, gibt es demnach keine
gesicherten Beweise. Trotzdem ist es nicht belanglos, zu welcher Tages-
oder Nachtzeit man schlafen geht. Wir werden in Zusammenhang mit den biologischen
Rhythmen auf diese Frage zurückkommen.
Der Stöckmann-Anhänger Georg Alfred Tienes
schreibt: »Der Morgen ist die schönste und schicklichste Zeit
zur Arbeit, weil wir dann verjüngt, biegsamer, kräftiger, von
größter natürlicher Reizsamkeit sind, kurz, mehr jugendliche
Wesensart aufweisen.«[12] Vielleicht
gehört der Leser aber gerade zu jenen Menschen, die diesem Lobgesang
der Morgenstunde nicht recht folgen können. Leute, die morgens Schwierigkeiten
haben aufzustehen und dann » richtig wach « zu werden, werden
oft etwas abschätzig als »Morgenmuffel« bezeichnet. Sie
fühlen sich auch nach dem Aufstehen noch schlaftrunken, müde
und schlapp, haben morgens wenig Appetit und frühstücken, wenn
überhaupt, nur spärlich. Während des Vormittags fühlen
sie sich immer noch nicht ganz auf der Höhe, bleiben ihren Mitmenschen
gegenüber wortkarg und mürrisch. Am Nachmittag bessern sich dann
Befinden und Stimmung. Man fühlt sich allmählich leistungsfähiger
und dynamischer. Solche Menschen arbeiten am besten am Abend und können
oft ohne Schwierigkeiten bis in die frühen Morgenstunden wach und
aktiv bleiben.
Der hier beschriebene »Morgenmuffel«
wird in der Fachsprache der Schlafforschung als »Abendtyp«
bezeichnet. Er steht im Gegensatz zum eindeutigen Morgentyp, der den Vorstellungen
von Stöckmann und Tienes am nächsten kommt. Morgentypen erwachen
spontan, fühlen sich ausgeruht, stehen ohne Mühe auf und fühlen
sich während der Morgen- und Vormittagsstunden am frischesten und
leistungsfähigsten. Am Spätnachmittag läßt dann ihre
Energie nach, sie werden zunehmend müder und gehen, sofern es die
Umstände erlauben, früh zu Bett.
Der englische Schlafforscher Jim Horne hat zusammen
mit seinem schwedischen Kollegen Olov Oestberg einen Fragebogen ausgearbeitet,
um Morgen- und Abendmenschen zu unterscheiden. Sie teilen dabei die Menschen
in fünf Kategorien ein: ausgesprochene Morgen- oder Abendtypen, mäßige
Morgen- oder Abendtypen und »Weder-noch«-Typen. In der von
diesen Forschern untersuchten Stichprobe gingen die ausgesprochenen Morgentypen
um etwa anderthalb Stunden früher zu Bett und standen fast zwei Stunden
früher auf als die ausgesprochenen Abendtypen. Auch im Tagesverlauf
der Körpertemperatur zeigten sich Unterschiede: Morgentypen erreichten
ihr abendliches Temperaturhoch um mehr als eine Stunde früher als
die Abendtypen. Die amerikanischen Schlafforscher Wilse Webb und Michael
Bonnet kamen zu ähnlichen Ergebnissen und stellten überdies fest,
daß die Schlafzeit der Morgentypen weniger variierte und daß
diese im Vergleich zu den Abendtypen einen problemloseren, befriedigenderen
Schlaf hatten.
Die Schlafforschung befaßt sich erst seit
relativ kurzer Zeit mit diesem Fragenkomplex, und die bisherigen Ergebnisse
geben noch kein klares Bild. Trotzdem ist es wichtig, die Merkmale von
Morgen- und Abendtypen und ihre Verteilung in der Bevölkerung mit
wissenschaftlichen Methoden zu untersuchen. Das mag für die eindeutigen
Abendtypen besonders tröstlich sein, weil sie in unserer Gesellschaft
noch oft auf Unverständnis und leise Ablehnung stoßen; denn
ihre Schlafgewohnheit beruht nicht auf »Lasterhaftigkeit«,
sondern bildet nur ein Extrem in der statistischen Verteilung der Schlafgewohnheiten.
Die Frage, weshalb es so unterschiedliche Morgen-
und Abendtypen gibt, ist allerdings noch ungeklärt. Wir wissen noch
nicht, inwieweit die vererbte Veranlagung eine Rolle spielt oder wieweit
die sich im Laufe des Lebens ausgebildeten Gewohnheiten ausschlaggebend
sind. Immerhin gibt es gewisse Hinweise dafür, daß den erstgenannten
Ursachen größeres Gewicht zukommen könnte.
Abb. 3.6: Entspannung ist für das Einschlafen
wichtig. »9 Heures du soir. La Journée du Célibataire.«
(Honoré Daumier, 1839). (55k JPG file)
Kurz- und Langschläfer
Napoleon war ein ausgesprochener Kurzschläfer.
Er ging abends zwischen 10 und 12 Uhr zu Bett und schlief bis 2 Uhr morgens.
Dann stand er auf, war in seinem Arbeitszimmer bis um 5 Uhr tätig
und schlief anschließend nochmals bis 7 Uhr. Überliefert ist
auch seine Meinung, daß nur Dummköpfe und Kranke mehr Schlaf
bräuchten. Zu den berühmten Kurzschläfern, die mit 4-6 Stunden
Schlaf auskamen, gehörten auch Edison und Churchill. Der britische
Staatsmann pflegte bis 3 oder 4 Uhr morgens zu arbeiten und schlief dann
nicht länger als bis 8 Uhr. Allerdings pflegte er nach dem Mittagessen
eine zweistündige Siesta zu halten. Auf der anderen Seite finden wir
aber auch geniale Langschläfer: Als eines der bekanntesten Beispiele
gilt Albert Einstein. Er verbrachte gerne 10 Stunden im Bett und soll auch
im Bett wesentliche Aspekte seiner Relativitätstheorie entdeckt haben.
Kurzschläfer sind für die Schlafforschung
besonders interessant, da bei ihnen offenbar der dem Schlaf zugeschriebene,
aber bislang nicht hinreichend aufgeklärte Erholungsvorgang in relativ
kurzer Zeit vor sich geht. Vom spanischen Maler Salvador Dali wird berichtet,
daß er, im Lehnstuhl sitzend, einen Zinnteller neben sich auf den
Fußboden stellte, einen Löffel zwischen Daumen und Zeigefinger
nahm und sich dann zurücklehnte. Sobald er einnickte, lösten
sich die Finger, der Löffel fiel auf den Teller, und Dali erwachte.
Der während dieses Augenblicks zwischen Einnicken und Erwachen genossene
Schlaf soll so erfrischend gewesen sein, daß sich der Maler ausgeruht
und munter erhob. Ein wahrlich surrealistischer Erholungsschlaf!
Behauptungen über besonders kurzen oder völlig
fehlenden Schlaf bedürfen einer sorgfältigen Überprüfung.
Der schottische Schlafforscher und Psychiater Ian Oswald berichtete kürzlich
von einem Mann, der behauptet hatte, zehn Jahre nicht mehr geschlafen zu
haben. Der Mann führte seine Schlaflosigkeit auf einen Autounfall
zurück, und wurde für diese »gesundheitliche Störung«
von der Versicherung großzügig entschädigt. Bei einer mehrtägigen
Überprüfung seines Zustandes im Schlaflabor, wo er sich in Begleitung
seiner Frau aufhielt, schlief er tatsächlich nur insgesamt 20 Minuten.
Am vierten Tag war er aber offensichtlich so schläfrig, daß
er kaum mehr die Augen offen halten konnte. Nachdem er sich auch noch in
der folgenden Nacht bis sechs Uhr wachgehalten hatte, schlief er laut schnarchend,
bis er nach zweieinhalb Stunden von seiner Frau geweckt wurde. Doch selbst
dann wollte er unbedingt weiterschlafen. Offensichtlich handelte es sich
hier um einen Kurzschläfer, der, um die laufende Entschädigung
der Versicherung zu erlangen, jahrelang mit Erfolg völlige Schlaflosigkeit
vorgetäuscht hatte.
Neben solchen unwahren Behauptungen gibt es aber
auch tatsächlich überprüfte Fälle von extremem Kurzschlaf.
Henry Jones und Ian Oswald untersuchten in Australien zwei gesunde, dreißig-
und vierundfünfzigjährige Männer, die behaupteten, nicht
mehr als drei Stunden pro Nacht zu schlafen. Beide führten ein aktives
Berufsleben und machten den Eindruck von tatkräftigen Menschen. Die
sechs bis sieben Nächte im Schlaflabor ergaben tatsächlich eine
Schlafzeit von weniger als drei Stunden pro Nacht. Der Tiefschlaf (Stadium
3 und 4) machte dabei 50 Prozent der Schlafzeit aus, der REM-Schlaf, der
schon kurz nach dem Einschlafen auftrat, betrug rund ein Viertel.
Über einen noch extremeren Fall von Kurzschlaf
berichteten der englische Schlafforscher Ray Meddis und seine Mitarbeiter:
Eine siebzigjährige pensionierte Krankenschwester gab an, mit nur
einer Stunde Schlaf pro Nacht auszukommen. Sie fühle sich einfach
nicht müde und verbringe die Nachtzeit mit Schreiben und Malen. In
zwei Versuchsserien wurde sie während jeweils drei bzw. fünf
Tagen im Schlaflabor untersucht. Man begleitete sie tagsüber, um auszuschließen,
daß sie sich schlafen legte. Auch in dieser Untersuchung bestätigten
die Registrierungen den extremen Kurzschlaf. Der Tiefschlaf nahm wiederum
fast die Hälfte der Schlafzeit ein, was im Hinblick auf das fortgeschrittene
Alter der Versuchsperson äußerst ungewöhnlich ist. Der
REM-Schlafanteil lag indessen unter der Norm. Im Bericht wird betont, daß
die Frau während beider Versuchsserien bei bester Laune gewesen sei.
Irgendwelche Schlafentzugserscheinungen seien nicht festzustellen gewesen.
Wir haben bisher extreme Fälle von Kurzschlaf
kennengelernt. Wie verbreitet ist aber der Kurzschlaf in der Bevölkerung?
Abbildung 3.7 zeigt, wie sich die Schlafdauer verteilt.
Die Säulendarstellung basiert auf einer Umfrage unter mehr als 800
000 Amerikanern, die über dreißig Jahre alt waren. Dabei ist
wichtig festzuhalten, daß nur subjektive Angaben vorlagen und diese
nicht durch objektive Verfahren überprüft werden konnten. Auf
tausend befragte Personen kam nur eine einzige, die weniger als vier Stunden
schlief, während vier Personen zwischen vier und fünf Stunden
schliefen. Auf der anderen Seite fanden sich auf tausend Personen sechzehn,
die mehr als zehn Stunden schliefen. Der Gipfel der Verteilung liegt bei
einer Schlafdauer von acht bis neun Stunden, die von 45 Prozent der Befragten
angegeben wurde. Bei etwa einem Drittel lag die Schlafdauer zwischen sieben
und acht Stunden. Auch in einer neueren französischen Umfrage (bei
800 Personen) war die am häufigsten angegebene Schlafdauer acht bis
achteinhalb Stunden. Unterschiede der Schlafdauer findet man übrigens
nicht nur bei Erwachsenen. In einer von der Universitätskinderklinik
Zürich durchgeführten Untersuchung variierte beispielsweise der
Schlaf von fünfjährigen Kindern zwischen acht und fünfzehn
Stunden. Wie kommt es zu diesen beträchtlichen Unterschieden? Eine
finnische Arbeitsgruppe ist kürzlich der Frage nachgegangen, ob Erbfaktoren
für die Schlafdauer verantwortlich sein könnten. Die Untersuchung
erfaßte über 2000 eineiige Zwillinge, bei denen das Erbmaterial
identisch ist, und mehr als 4000 zweieiige Zwillinge, die über unterschiedliches
Erbmaterial verfügen. Es ergab sich, daß Erbfaktoren die Schlafdauer
und sogar die subjektiv beurteilte Schlafqualität in statistisch signifikanter
Weise mitbestimmen. Eineiige Zwillinge zeigten auch dann ähnliche
Werte, wenn sie nicht zusammenlebten.
Was bisher über die Schlafdauer ausgesagt wurde,
stützt sich auf Durchschnittswerte. Dabei wurden Schwankungen vernachlässigt,
die bei ein und demselben Individuum auftreten. Aus eigener Erfahrung wissen
wir aber sehr wohl, daß wir nicht immer gleich lang schlafen. Nicht
nur äußere Umstände erlauben uns zuweilen viel (z. B. an
Wochenenden oder im Urlaub) oder auch nur sehr wenig Schlaf (z. B. während
Vorbereitungen auf Prüfungen oder der Pflege eines Kranken), sondern
auch innere Faktoren sind wichtig. Aber auch Stimmungsschwankungen können
den Schlaf stark beeinflussen: Immer wieder hört man, daß Leute,
wenn es ihnen gut geht und sie ein Stimmungshoch haben, mit weniger Schlaf
auskommen als in Zeiten schlechterer Stimmungslage. Überspitzt formuliert
könnte man sagen, daß in jedem von uns ein potentieller Kurz-
und Langschläfer steckt.
Wenden wir uns nun noch der Schlafstruktur von Kurz-
und Langschläfern zu. Den damit verbundenen Fragen ist besonders die
Pariser Physiologin und Schlafforscherin Odile Benoit nachgegangen. Der
auffälligste Befund war, daß Langschläfer trotz der langen
Schlafdauer weniger Zeit im Tiefschlaf (Stadium 3 und 4) verbrachten als
Kurzschläfer. Andererseits waren es gerade die Langschläfer,
die auf Schlafentzug mit einer besonders ausgeprägten Verlängerung
des Tiefschlafs im ersten Schlafzyklus reagierten. Diese Unterschiede lassen
sich erklären, wenn wir berücksichtigen, daß Langschläfer
den wichtigen Tiefschlaf offenbar vor allem zu Schlafbeginn erreichen können.
Sie müssen ihn später, während der langen Schlafzeit, in
»verdünnter« Form (d. h. als Stadium 2) absolvieren. Kurzschläfer
können dagegen längere Zeit im Tiefschlaf verbringen und es ist
für sie damit schon nach einer kürzeren Schlafperiode möglich,
ihr »Pensum« zu erfüllen.
Werfen wir nun noch einen Blick auf eine faszinierende
Untersuchung, die allerdings mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet.
Es geht um den Zusammenhang zwischen Schlafdauer und Gesundheit. Obwohl
seit alters her dem Schlaf eine gesundheitsfördernde Wirkung zugeschrieben
wird, wurde diese Annahme bisher noch kaum wissenschaftlich untersucht.
Kürzlich wurden nun von dem kalifornischen Forscher und Psychiater
Dan Kripke und seinen Mitarbeitern Ergebnisse veröffentlicht, die
mit dieser Frage in Zusammenhang stehen. Die Befunde basieren auf einer
in den Jahren 1959/60 von der amerikanischen Krebsgesellschaft durchgeführten
Umfrage bei mehr als einer Million Menschen. Alle Altersgruppen von Erwachsenen
über dreißig Jahren wurden erfaßt. Obwohl die Untersuchung
nicht eigentlich den Schlaf zum Thema hatte, wurde doch auch nach der Schlafdauer,
dem Gebrauch von Schlafmitteln und nach eventuellen Schlafstörungen
gefragt. Sechs Jahre nach dieser Erhebung wurde ermittelt, wieviele der
Befragten inzwischen verstorben waren und was ihren Tod verursacht hatte.
Es zeigte sich ein überraschender Zusammenhang zwischen Schlafdauer
und Sterblichkeit (siehe Abbildung 3. 8). Bei den
Personen, die sieben bis acht Stunden schliefen, war die Sterblichkeitsrate
am geringsten, sie stieg sowohl bei der Personengruppe mit kürzerer
als auch längerer Schlafdauer deutlich an. (Die Sterblichkeitsrate
ist der Quotient zwischen beobachteter und aufgrund der Bevölkerungsstatistik
erwarteter Sterblichkeit). Auf der Abbildung sind die Ergebnisse auf die
Kategorie mit der niedrigsten Sterblichkeitsrate (Personen, die sieben
bis acht Stunden schlafen) bezogen. Bei extremen Langschläfern (mehr
als zehn Stunden Schlaf) war die Sterblichkeitsrate eineinhalb bis zweimal
höher und bei extremen Kurzschläfern (weniger als vier Stunden
Schlaf) sogar fast zweieinhalbmal höher als bei Personen, die sieben
bis acht Stunden schliefen. Der Leser wird wahrscheinlich nun die Frage
stellen, auf welchen Todesursachen die erhöhte Sterblichkeit beruht.
Die überraschende Antwort: Fast alle Todesursachen traten häufiger
auf. Kurz- und Langschläfer starben vermehrt an Herzkrankheiten, Krebs
oder Selbstmord. Nur nebenbei sei erwähnt, daß die Sterblichkeitsrate
bei Personen, die häufig Schlafmittel nahmen, um 50 Prozent höher
lag als bei denen, die nie Schlafmittel benützten.
Wie sind diese Ergebnisse zu interpretieren ? Wie
eine andere Untersuchung ergab, führen Leute, die weniger als sieben
oder mehr als acht Stunden schlafen, keineswegs einen ungesünderen
Lebenswandel (gemeint sind Rauchen, Alkoholgenuß, Übergewicht,
ungenügende körperliche Betätigung) als ihre sieben bis
acht Stunden schlafenden Mitbürger. Es läßt sich aber nicht
ausschließen, daß äußere (z. B. Streß, Schichtarbeit)
oder innere Primärursachen (z. B. beginnende Erkrankungen) den Schlaf
beeinflussen und zu einer erhöhten Sterblichkeitsrate führen.
Zwischen Schlafdauer und Sterblichkeitsrate muß also kein ursächlicher
Zusammenhang bestehen. Daß solche äußeren und inneren
Primärursachen sowohl besonders kurzen als auch besonders langen Schlaf
bewirken sollen, ist allerdings nicht ohne weiteres verständlich.
Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, daß doch auch eine durch
den Schlaf verursachte, noch unbekannte Wirkung der körperlichen und
seelischen Gesundheit förderlich ist, daß aber sowohl ein zuwenig
als auch ein zuviel dieses Einflusses negative Auswirkungen hat.
Abb. 3.7: Wie lange schläft man? Die meisten
Menschen schlafen 7-9 Stunden. Die Darstellung beruht auf einer Umfrage
bei fast 1 Million Erwachsenen. Die Schlafdauer von 8-9 Stunden wurde am
häufigsten genannt, 7-8 Stunden etwas seltener. Nur ein kleiner Bruchteil
der Befragten gab an, weniger als 4 Stunden oder mehr als 10 Stunden zu
schlafen. (Nach einer Arbeit von Kripke und Mitarbeitern, 1979.) (19k JPG
file)
Abb. 3.8: Sterblichkeitsrate. Die Sterblichkeitsrate
ist am geringsten bei Leuten, die 7-8 Stunden schlafen. Sie nimmt bei kürzerer
oder längerer Schlafdauer progressiv zu. (Nach einer Arbeit von Kripke
und Mitarbeitern, 1979.) (40k JPG file)
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